Während andere in Zeiten wie diesen alte Fotos sortieren, ihr Hobby neu erfinden oder den Keller aufräumen, habe ich kürzlich in meinem Tagebuch geblättert: Es ist der 16. März 2020. Der Bundesrat hat heute gemäss Artikel sieben im Epidemiegesetz für die Schweiz den Notstand ausgerufen. Die Welt steht still.
Ich lese weiter und bin erstaunt. Datiert auf den 19.Juni finde ich den Eintrag: Der Bundesrat hat die ausserordentliche Lage wieder aufgehoben. Ich habe einen meiner Lieblingsmenschen umarmt.
Diese Zeilen lese ich wieder und wieder. Eine Umarmung war doch vor noch nicht so langer Zeit das Normalste der Welt. Mir kommt es vor, als wäre das schon sehr, sehr lange her. Länger als der letzte Jobwechsel oder der grosse Liebeskummer und was sonst noch so in den Tiefen meines Tagebuches zum Vorschein kommt. Irgendwie habe ich in den letzten Monaten das Zeitgefühl komplett verloren, denke ich beim Weiterblättern. Das hat vermutlich auch seine Vorteile. Entschleunigung soll ja gesund sein.
Aber man vergisst. Vergisst, dass diese Zeit noch nicht ausgestanden ist. Umarmungen eben noch immer gefährlich sein können und das Maskentragen im ÖV unter Umständen ein Leben rettet. Die wieder ansteigenden Covid-19-Ansteckungszahlen unterstreichen das jedenfalls. Und gerade weil diese endlos erscheinende Situation mir –und vermutlich den meisten Menschen – langsam aber sicher wahnsinnig auf die Nerven geht, sollten wir vielleicht alle ab und zu mal wieder in unser (virtuelles) Tagebuch schauen.
Nora Bader ist Journalistin