Theologin Tatjana Disteli / Anzeiger Thal Gäu Olten

Ein heller Stern in einer dunklen Zeit

Die Anzeiger-Weihnachtsgeschichte aus der Feder der Oltner Theologin Tatjana Disteli

Es war einmal vor langer Zeit ein ganz besonderes Weihnachtsfest. Man schrieb das Jahr 2020. Und es war Hl. Abend.

Die lebenslustige, herzenswarme und hilfsbereite Elsi wurde in diesem Frühjahr 80-jährig. Mit ihren Lieben feiern konnte sie ihren Geburtstag trotzdem nur halbbatzig. Im Advent wurde sie zu allem Elend hin auch noch so richtig einsam. Nein, nicht nur einsam, sondern isoliert. Als hätte sie jemand ins Weltall gesetzt. Sie litt grässlich unter dieser Situation. Bis vor kurzem in das familiäre Netz ihrer Lieben eingebettet, fühlte sie sich nun in diesem Universum verloren und heimatlos. Mutterseelenallein. Als wäre das alles noch nicht genug gewesen, war es in dieser Adventszeit wochenlang neblig und düster, als wäre das Wetter ein Spiegelbild ihres Innern: Es fühlte sich an, als würde sie in ihrem eigenen Saft braten, bis sie ganz und gar: gar war. Aber, warum denn das alles, magst Du jetzt fragen?

Nun, es begab sich so: In diesem besonderen Jahr verbreitete sich ein Virus über den ganzen Erdball. Das letzte Mal geschah so etwas vor über 100 Jahren. Damals starben Millionen von Menschen. Und das sollte diesmal nicht wieder geschehen: Also nahm man sich ganz besonders in Acht! Gemeinerweise übertrug sich dieses Virus beim Händeschütteln oder beim Essen und Berichten, bei einer Umarmung – kurz, bei allem, was Menschen zum Glücklichsein eben brauchen. Viele ihrer alten Freunde hatten die Welt bereits verlassen. Ihre beste Freundin hatte den kürzlichen Ausbruch in ihrem Altersheim nicht überlebt. Ihre Kinder und Kindeskinder besuchten das Grosi kaum noch – aus Liebe natürlich – um es nicht zu gefährden. Und ein Haustier hatte sie auch keins mehr. Aber am allerschlimmsten war, dass Elsis Ehemann Werni in dieser Adventszeit verstorben war: Das Virus. Es ging alles ganz schnell.

Sie hatten es doch so schön miteinander gehabt, denkt sie und schaut zu seinem Bild hinüber. Sie sitzt in ihrem Lehnstuhl, eine Decke über dem Knie, vor sich einen heissen Kaffee und ein paar Weihnachtsguetzli. Die hatte ihre liebe Tochter, zusammen mit einem iPad, für sie in den Briefkasten gelegt. «Ach», seufzt sie unmerklich, wie war das Leben doch schön, letztes Jahr. Eine andere Welt! Als sie sich zur Erinnerung an den letztjährigen Hl. Abend im Kreis ihrer Lieben zwingt, huscht trotz allem ein winziges Lächeln um ihre Mundwinkel: Sie erinnert sich an ihre versammelte Flohbande, an den festlichen Weihnachtsgottesdienst mit den engelsgleichen Gesängen, die ihr Hühnerhaut auf die Haut kitzelten, an die feinen Düfte, das Lachen und Erzählen, an die leuchtenden Kinderaugen und die innige Umarmung ihres Mannes, nachdem er ihr Geschenk auspackte. Sie nimmt einen heissen Schluck. Der wärmt auch ein wenig das Herz, nicht nur den Magen. Und heute? Nichts. Einfach nichts. Leere, wie in einem schwarzen Loch, das alles mit sich in den Abgrund reisst! Gut, sie hatte schon viele Hochs und Tiefs meistern müssen – aber das! So trostlos fühlte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nicht. Was hat denn dieses Leben überhaupt noch für einen Sinn? Ob sie je wieder aus diesem dunklen Loch aufsteigen würde?

Und jetzt der zweite Lockdown – über die Festtage! Ende Feuer. Alle Menschen igelten sich in ihren Wohnungen ein, wie zu einem Winterschlaf. Die einzigen Lebenszeichen in ihrer Strasse waren die tanzenden Kerzen in den Nachbarsfenstern. Immerhin. Ein bisschen Licht, ein bisschen Verbundenheit über die Gärten hinweg. In der eindunkelnden Stube entzündet sie die vierte weisse Kerze ihres Adventskranzes. Advent heisst «warten». Worauf denn, um Himmels willen! Die Flamme flackert kurz auf – und erlischt. Wie ich, denkt sie. Beim zweiten Versuch beginnt die Umgebung zu leuchten: Wie hell doch eine einzige Kerze einen dunklen Raum erleuchtet. Die drei anderen stimmen nun auch in das Leuchten der vierten Kerze mit ein. Sie hofft, dass nun endlich auch die Menschen, die nicht an das Virus glauben, verstehen, wie gefährlich es ist. Dann hätte das alles wenigstens einen Sinn. Sollte sie später etwas kochen – für sich ganz allein? Nein. Sie mochte nicht. Sie sitzt einfach da, betrachtet das flackernde Licht. Und wenn die Finger kühl werden, dann streckt sie sie einen Moment lang über die Flammen. So vergehen drei Stunden. Es ist still. Heilige Nacht. Stille, heilige Nacht. «Wenn Du denkst, es geht nicht mehr, dann kommt von irgendwo ein Lichtlein her.» Diesen Sinnspruch hatte sie von ihrer Grossmutter. Sie selber hatte die spanische Grippe überstanden. Ihr Mann war daran gestorben. Nein, Selbstmitleid und Lebensverdruss helfen auch nicht weiter: «Geh’ ich besser schlafen», gibt sie sich einen Ruck! Sie pustet eine Kerze nach der anderen aus. Jetzt die Vierte: Eine einzige Kerze genügt. Erstaunlich.

Bevor sie sich hinlegt, wirft sie einen Blick aus dem Schlafzimmerfenster. Kein Mensch auf der Strasse. Bloss ein weisser Flaum ohne jede Spur. Wenn nur diese lange Nacht schon vorüber wäre. Halt! Was für ein hell leuchtender Stern dort oben am Himmelszelt …! Sie lächelt. Wie hell er scheint, obwohl scheinbar ganz allein, wie die eine Kerze … Die Unermesslichkeit des Kosmos hatte sie seit jeher fasziniert. Die Sterne am Himmelszelt weisen über ihr kleines Leben hinaus auf eine tiefere Realität, die weit grösser und geheimnisvoller ist, als das Erleben ihrer alltäglichen Welt: «Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir zu wissen glauben», hört sie ihre verstorbene Mutter flüstern. Das Betrachten dieses leuchtenden Gestirns fühlt sich an, als wärs ein Gruss vom Himmel, ganz persönlich, für sie allein: «Denk an den Stern von Bethlehem, Elsi. Du bist nie allein!» Sie schüttelt den Kopf und spricht hörbar zu sich selber: «Um Gottes Willen! Jetzt werde ich auch noch senil. So flüchtet man sich in eine Traumwelt, wenn man die Realität nicht aushalten kann …».

Morgen um 10 Uhr wird ihre Tochter versuchen, sie per Skype zu erreichen. Mal sehen, ob sie dieses Gerät überhaupt bedienen kann. Mal sehen, ob sie morgen früh noch aufwacht. Nach einer ganzen Weile erst fällt sie erschöpft in tiefen Schlaf. Elsi döst morgens noch lange vor sich hin. Sie ist tiefenentspannt, spürt Freude im Herzen mit Wärme im Bauch, mit Trost in allen Gliedern. Vor ihrem inneren Auge sieht sie einen unerhört hellen Stern am dunklen Himmel leuchten. Er strahlt direkt über sie herab in einem warmen Lichtkegel, über ihre ganze Strasse, über das Städtchen, über das Land und darüber hinaus. Dieser helle Sternenzauber strahlt wundersame Wärme direkt in die Herzen der Menschen und Tiere.

Sie schlägt die Augen auf. Mein Gott! Was für ein Traum! Verflogen sind Angst und Trauer. Weg ist der Nebel, der sich über Wochen hinweg wie eine Glocke über ihre Seele legte. Ein neuer, klarer Morgen bricht an! Sie lebt – und wie! Mit lange verlorenem Lebensmut und, was ist das? Eine Art Geborgenheit? Sie schüttelt den Kopf, wie eine nasse Katze: Doch. Alles noch da. Wenn sie auch nicht an Wunder glaubt – das hier fühlt sich echt an und ehrlich, tief in ihrem Innersten. Ach, es ist ja Weihnachten! Schnell ein Blick zur Uhr: Schon neun? So lange hatte sie ewig nicht geschlafen. Nach der Morgentoilette und einem ersten Kaffee versucht sie, das iPad zu bedienen. Es klappt. Schon klingelt es: «Frohe Weihnachten, Mamma!», sagen alle, wie mit einer Stimme: Ihre Tochter, die beiden Enkelkinder und der Schwiegersohn strahlen sie an. «Frohe Weihnachten, Kinder!», schmunzelt sie zurück.

Da platzt es aus ihr heraus: «Stellt Euch vor, ich habe heute Nacht etwas unglaublich Spezielles erlebt!»
«Du bist aber nicht etwa zu Nachbarn gegangen, Mamma!?»
«Nein. Ich hatte einen wunderbaren Traum, der mich glücklich macht. Zumindest für heute.»
«Einen Traum, Mamma?»
Stille.
«Einen Traum von… etwa von einem Stern?»
Sie nickt.
Stille.
Die Tochter sieht ihrem Mann in die Augen, ganz lange. Die Kinder sitzen schweigend da, mit weit aufgerissenen Augen. Keiner gibt auch nur einen Ton von sich.

Nach einer gefühlten Ewigkeit sagt Elsis Tochter etwas stotternd: «Mamma, wir können uns das nicht erklären – aber, kann es wirklich sein, dass wir heute Nacht alle denselben Traum geträumt hatten? Gestern Abend konnte einfach keine Freude aufkommen. Wir hatten Dich vermisst und waren bedrückt. Es tat uns so leid, dass wir Dich alleine lassen mussten. So gingen wir schlafen. Und heute Morgen sind wir – eins ums andere – getröstet aufgewacht.» «Was hat das zu bedeuten?» Die Kleine erwidert: «Grosi, für mich bedeutet das, dass Freud und Leid, Nähe und Distanz, Leben und Tod ganz nahe beieinander sind, zwei Seiten der einen Medaille.» Ihr Bruder spricht weiter: «Grosi! Wo die Nacht am Dunkelsten ist, da strahlt der Weihnachtsstern doch am hellsten, nicht wahr!» «Vielleicht will der Weihnachtsstern uns zeigen: Du bist nicht nur ein Geschöpf der Erde, sondern auch eins des Himmels. Die Füsse fest verankert auf dem Boden der Realität und die Seele weit ausgespannt in den Himmel hinein», sinniert Elsis Tochter nachdenklich.

Wisst ihr, was ich glaube?», flüstert ihr Schwiegersohn den Kindern zu. «Sag schon, Papa!» «Ich spüre, es gibt eine Kraft, die Sterne und Menschen zum Leuchten bringt, die uns formt, uns Energie gibt und uns begleitet. Es gibt eine Kraft, die uns zum Leuchten bringt für die Liebe und den Frieden, für die Entrechteten, für die Einsamen und Armen – und heute ganz besonders: Für die Kranken und Sterbenden der ganzen Welt.» Er stubst sanft die Näschen der Kinder: «Ist das nicht die Botschaft des Kindes in der Krippe? Es überzeugt nicht mit klugen Argumenten, sondern durch seine Anziehungskraft: Die Sehnsucht, die Du spürst, ist Gottes Sehnsucht nach Dir.» «Ach, Kinder!» Tränen kullerten über Elsis Gesicht. Freudentränen. «Ja. Jetzt weiss auch ich, welche Botschaft mir der Weihnachtsstern gebracht hat: Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei! Man soll die Hoffnung niemals aufgeben», sagt sie leise mit einem tiefen Leuchten im Gesicht. «Und wisst Ihr, was das grösste Geheimnis dabei ist: Jeder kann etwas dazu beitragen, damit das erloschene Licht im Nächsten neu zum Leuchten kommt. Ja. Ihr seid das Licht der Welt … – und Euer Licht soll den Menschen leuchten! Jetzt kann ich es wieder deutlich fühlen: Unser Leben und die ganze Welt stehen unter einem guten Stern. Der Stern von Bethlehem wacht über uns. Er begleitet uns durch jedes Auf und Ab unseres Lebens. Wo die Nacht am Dunkelsten ist, da strahlt der Stern am hellsten – für mich und für Dich. In der Mitte der Nacht, beginnt der neue Tag.»

An diesem sagenhaften Weihnachtsfest im dunklen Jahr 2020 erzählten sich die Menschen rund um den Globus – ob schwarz, gelb oder weiss, Christen oder Juden, Muslime oder Atheisten – was sie in dieser Nacht geträumt und welche zauberhafte Botschaft ihnen der Stern der Hl. Nacht ins Herz gelegt hatte.

Dieser geheimnisvolle Stern wurde allerdings niemals wieder gesichtet. Doch begann er immer wieder dann unsichtbar in den Herzen derer zu leuchten, die im Dunkeln lebten. So verbreitete sich die Botschaft des Kindes in der Krippe ganz neu, von einem Menschen zum anderen. Und ihr Licht erleuchtete die Häuser und wärmte die Stuben.

Frohe, gesegnete Weihnachten!

Theologin Tatjana Disteli / Anzeiger Thal Gäu Olten
Die Oltnerin Tatjana Disteli ist Biomedizinische Analytikerin FH und Kath. Theologin und arbeitet in der Funktion der Leitung Spezialseelsorge für die Kath. Kirche im Kanton Zürich (inkl. Spitalseelsorge).

Text: MGT & Bild: ZVG