Spanische Grippe / Anzeiger Thal Gäu Olten
Armeeangehörige während der Spanischen Grippe 1918 im Spital von Olten (Historisches Lexikon der Schweiz, Archiv für Medizingeschichte der Universität Zürich; Fotografie A. & G. Zimmermann, Genf).

Ein Déjà-vu für Medizin und Politik

Geschlossene Schulen, ein Verbot von Theater, Kino und Konzerten sowie keinerlei Vereinsaktivitäten: Was nach Vorschriften der letzten Monate tönt, ist etwas mehr als hundert Jahre alt und stammt aus einer kantonalen Verordnung von 1918 «betreffend gesundheitspolitischer Massnahmen gegen die Spanische Krankheit (Grippe).»

Was der solothurnische Regierungsrat am 11. Oktober 1918 im Kampf gegen die zweite Influenza-Welle beschlossen und publiziert hatte, als weitere Verschärfung nach diversen Verordnungen seit dem 17. Juli, das deckt sich in den Grundzügen mit den wichtigsten Massnahmen gegen die Coronavirus-Pandemie. Auch während der Spanischen Grippe gegen Ende des ersten Weltkrieges standen die Einschränkung der Kontakte und die hygienischen Vorkehrungen im Vordergrund. So wurde die Bevölkerung «nachdrücklich aufgefordert, die persönlichen Sicherheitsvorkehren … (Absonderung der Kranken, grösste Reinlichkeit, Reinigung des Mundes und der Nase, sofortige Bettruhe, längere Schonung nach Beendigung des Fiebers usw) genau und fortgesetzt zu beobachten.» Kommt uns all dies nicht bekannt vor?

Die Massnahmen gegen die Spanische Grippe waren 1918 ähnlich wie heute
Sie war ebenso weltumspannend und ihre zweite Welle verlief ebenfalls heftiger als die erste: Die sogenannte Spanische Grippe von 1918 weist durchaus Ähnlichkeiten mit der aktuellen Coronavirus-Pandemie auf. Und auch die behördlichen Massnahmen zeigen einige Parallelen.

«Eine seltsame Krankheitsform von epidemischem Charakter ist in Madrid aufgetreten. Die Epidemie ist von einer milden Form, Todesfälle wurden bisher nicht gemeldet.» Das meldete die Nachrichtenagentur Reuters Ende Mai 1918. Was zu Beginn noch nicht allzu dramatisch klang, das entwickelte sich zu einer Pandemie, die je nach Schätzungen zwischen 20 und 50 Millionen Menschen das Leben gekostet hat.

Der Ausbruch in Spanien gab der Influenza zwar ihren Namen, der Ursprung ist allerdings bis heute nicht abschliessend geklärt. Eine Annahme besagt, dass sie erstmals in den USA aufgetaucht sei und von amerikanischen Soldaten in Europa eingeschleppt wurde. Andere Thesen gehen davon aus, dass die Krankheit aus dem Fernen Osten stammt (woher auch der Coronavirus kommt).

Militärspital im Schulhaus
Landesweit starben in den Jahren 1918 und 1919 rund 25 000 Menschen an der Grippe, im Kanton Solothurn wurden im Herbst rund 600 Todesopfer gezählt. In der zahlenmässigen Statistik der grippebedingten Todesfälle lag der Kanton Solothurn zwar im schweizerischen Mittelfeld, anteilsmässig auf die ständige Wohnbevölkerung umgerechnet, nahm er jedoch einen Spitzenplatz ein.

In Olten steckten sich in jenem Herbst wöchentlich 200 Personen an, worunter zahlreiche Soldaten, die hier stationiert waren. Weil das Spital überbelegt war, wurde im Bifangschulhaus für das Militär die «Etappensanitätsanstalt» (ESA) eingerichtet, wobei zwei Säle für die Bevölkerung bereitgestellt wurden. Da der Platz nicht ausreichte, pflegte man erkrankte Soldaten auch im Hübelischulhaus und schliesslich im Frohheim. Die Zahl der infizierten Soldaten in den Oltner Schulhäusern stieg im November 1918 über die Tausendermarke.


Das Regime schrittweise verschärft
Bei der zivilen Behörde ergibt sich ein Bild, das mit dem Vorgehen der letzten zwölf Monate durchaus einige Gemeinsamkeiten aufweist. Gewisse grobe Leitlinien waren auf nationaler Ebene in der Sanitätsgesetzgebung geregelt, andere Entscheide beruhten auf der Solothurner Staatsverfassung von 1887 sowie einem Bundesratsbeschluss vom 18. Juli 1918 betreffend die Bekämpfung der Influenza.

Der solothurnische Regierungsrat verfügte die ersten Massnahmen mit einer Verordnung am 17. Juli 1918 und passte sie bis Oktober mit sechs weiteren Versionen fortlaufend an. Wie in den letzten Monaten ging es auch vor hundert Jahren darum, mit weiteren Schritten und Einschränkungen der Ausbreitung der Pandemie Einhalt zu bieten.

Zahlreiche Verbote…
Einige der Paragraphen lesen sich, von den sprachlichen Eigenheiten jener Zeit mal abgesehen, ziemlich ähnlich wie die heutigen Covid-19-Vorgaben. So beschloss der Regierungsrat unter anderem:
«Sämtliche Schulen des Kantons werden bis auf weiteres neuerdings geschlossen. Theater-, Kino- und Variété-Vorstellungen, Konzerte, Gartenfeste, Vergnügungsanlässe von Vereinen und alle andern ähnlichen Unterhaltungs-, Vergnügungs-, Fest- und Sportveranstaltungen – in geschlossenen Räumen oder im Freien – sind bis auf weiteres im ganzen Kanton verboten. Jahrmärkte (§ 20 des Hausier- und Marktgesetzes vom 16. Juli 1899) dürfen, soweit sie nicht den Handel mit Vieh, sondern mit andern Waren betreffen, bis auf weiteres nicht stattfinden. Öffentliche und private Tanzbelustigungen, mit Einschluss der Tanzkurse und der in Wirtschaften durch Gäste improvisierten gelegentlichen Tanzveranstaltungen, dürfen bis auf weiteres nicht stattfinden. Insbesondere ist die Abhaltung von Tanzbelustigungen an Jahrmarktstagen und andern in § 55 des Wirtschaftsgesetzes vom 9. Februar 1896 vorgesehenen Tanztagen untersagt.»

… und dringliche Empfehlungen
In einzelnen Punkten, in denen aktuell eindeutige Vorgaben bestehen, wurde 1918 etwas unverbindlicher formuliert. «Der Bevölkerung, insbesondere den Gesellschaften und Vereinen usw., wird dringend empfohlen, alle Versammlungen und alle übrigen nicht schon in Ziff. II inbegriffenen Veranstaltungen, wie Gesangübungen und Turnstunden der Vereine usw., – in geschlossenen Räumen oder im Freien – welche eine grössere Anzahl Personen zusammenführen, im eigenen und im Interesse Dritter während der nächsten Zeit, …, zu unterlassen.

Die Einwohnergemeinden sind ausserdem, wenn die Lage es erforderlich macht, berechtigt, bezw. im Sinne von Abs. I gehalten, den öffentlichen Gottesdienst und andere kirchliche Versammlungen vorübergehend zu untersagen, in der Meinung, dass die Einwohnergemeinde vorerst bei den Behörden der Kirchgemeinde die Sistierung auf dem Wege der Verständigung auszuwirken sucht.»

Empfehlung einer Quarantäne …
Zwar wird das Wort «Quarantäne» nicht verwendet, aber einige Passagen der Verordnung entsprechen dieser Massnahme.
«Personen, die an der Grippe erkrankt waren, wird dringend empfohlen, mindestens während acht Tagen nach Wegfall der fieberhaften Erscheinungen den Besuch von Kirchen und andern öffentlichen Lokalen, insbesondere der Wirtschaften, zu unterlassen; die gleiche Rücksichtnahme gegen die Bevölkerung wird von den Personen aus Familien, in welchen sich Grippekranke befinden, während der Dauer der Krankheit erwartet.»

…und zur Lohnfortzahlung
Eher «weich» formuliert ist der Abschnitt zur Situation am Arbeitsplatz und zur finanziellen Regelung.
«Den Firmen wird empfohlen, dafür zu sorgen, dass Arbeiter und Angestellte, welche erkrankt waren, sowie Arbeiter und Angestellte aus Familien mit Grippekranken der Arbeit in den Geschäftslokalen während angemessener Zeit fernbleiben, immerhin in der Meinung, dass dem Personal hieraus keine ökonomische Einbusse erwachsen soll.»
Die Verordnung enthält schliesslich mehrere Bestimmungen zum Thema Verstorbene und Bestattungen. So sollte auf die sogenannten Leichenbesuche verzichtet werden und sollten Personen, die bei der Leiche wachen, dies nicht wie einst üblich im selben Zimmer, sondern in einem Nebenraum tun.

Drastische Strafen
Verhältnismässig streng ist das Strafmass bei Verstössen.
«Uebertretungen der in dieser Verordnung aufgestellten bezw. auf Grund desselben von den Gemeindebehörden erlassenen verbindlichen Gebote und Verbote (…) werden mit Geldbusse bis zu Fr. 8000 oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft. Beide Strafen können verbunden werden.»

Spanische Grippe / Anzeiger Thal Gäu Olten
Aus dem «Gäu Anzeiger» von 1918: Ganzseitige Publikation der regierungsrätlichen Verordnung.
Text: NRU & Bilder: ZVG