Mit spitzer Feder

Meinrad Kofmel

Angestrengt starrte der Berufsberater auf den Bewertungsbogen. Die unleserliche Schrift verleitete ihn beinahe zu einem humorigen «vielleicht Arzt». Ein Blick auf die Zeugnisnoten der unablässig an ihrem Handy manipulierenden Klientin liess jedoch jede Hoffnung, die Bemerkung könne verstanden werden, ersterben. Sein Gegenüber formte ihre Lippen, die so aufgeblasen waren, dass sie der Titanic genügend Auftrieb verliehen hätten, um sie am Sinken zu hindern, zu einem Kussmund, hielt die groteske Mimik in einem Selfie fest und veröffentlichte dieses alsdann auf einer Internet-Plattform. Digitale Herzchen und der Klang feiner Glöckchen modellierten ein selbstzufriedenes Lächeln auf ihr Gesicht, dessen Vorhandensein unter der massiven Schminkschicht, die jedem wärmedämmenden Aussenputz alle Ehre machte, zu vermuten war.

«Wie stellen Sie sich denn Ihr Leben vor?», fragte der Fachmann mit einer zu neunzig Prozent mit Resignation gesättigten Stimme. «Ich will Fame und Fans und Geld und Luxus und Partys ohne Ende!» Man konnte der jungen Frau nicht vorhalten, sie wisse nicht, was sie wolle. Nach einer kurzen Weile blickte der Mann mit traurigen Augen über seine Nickelbrille und rekapitulierte: «Sie sind arbeitsscheu, lernfaul, talentlos, narzisstisch, oberflächlich, beratungsresistent, Sie strotzen vor Selbstüberschätzung und glauben, es müsse Ihnen alles zufallen. Da gibt es nur eines: werden Sie Infaulenzer.» «Influencer heisst das!», erschallte harsch das Echo. Er schüttelte den Kopf. «Da bin ich nicht so sicher…»

Der Autor schafft es (noch) nicht, jeder modernen Berufsgattung mit dem gleichen Respekt zu begegnen.