In meiner Gemeinde wohnt ein Mann, der entwickelt für Kunden in Zürich und London Finanz-Software. Er ernährt sich vegan, hält in seiner Wohnung Reptilien und spricht am Arbeitsplatz nur englisch. In meiner Gemeinde wohnt eine Frau auf 1100 m ü.M., die hat drei Kinder und drei Jobs, nämlich jenen als Bäuerin, als Hirtin und als Wirtin der Bergwirtschaft.
Nun hörte man wochenlang von der Landbevölkerung als «Agrarlobby», mit dem Resultat, dass die gepeinigte rurale Einwohnerschaft bildlich gesprochen mit fletschenden Zähnen zur Urne schritt und all das vermeintlich aus der Stadt kommende Machtwerk bodigte. Ich bin konsterniert. Da spricht man von «der Stadt» und von «dem Land», und was sehe ich? Eine Landbevölkerung, die so verschieden ist, dass zwischen den Lebensrealitäten meiner Einwohner halb Europa Platz hätte. Um diese Konsternation loszuwerden, lasst euch etwas gesagt haben, ihr, die ihr absichtlich diesen Graben aufreisst, um eure miserable politische Profilierung verbessern zu können: Hier auf dem Land wohnen nicht nur stiernackige Zwilchhosen-Fanatiker. Und in der Stadt tragen nicht alle Flanellhemd und Hipster-Bart. Und sowieso kann man, ob in Zwilchhosen oder Flanellhemd, links, rechts, hetero, schwul, Dachdecker, Lehrer, Vegetarier, Muttersöhnchen, hochbegabt, depressiv, feinfühlig, grobschlächtig, sprich: einfach alles sein.
Den «Stadt-Land-Graben» gibt es leider. Weil gewisse Leute ihn wollen. In meinem Kopf gibt es ihn nicht. Niemals.
Stefan Müller-Altermatt glaubt immer noch an die Willensnation Schweiz, in der man zusammensteht, so verschieden man auch sein mag.