Coronavirus / Anzeiger Thal Gaeu Olten
Long Covid begleitet ihn auch heute noch: Christoph Rast aus Olten.

Was das Coronavirus auslösen kann

Ein persönlicher Erfahrungsbericht des ehemaligen Oltner Stadtbibliothekars Christoph Rast

Die Spanne reicht von symptomfrei bis schwer erkrankt, von rascher Genesung bis zu monatelangen Nachwehen: Zu einer Covid-19-Erkrankung gibt es die unterschiedlichsten Geschichten und Erfahrungsberichte. Christoph Rast hat seine für den Anzeiger Thal Gäu Olten aufgeschrieben.

Es kam nicht gänzlich unerwartet, aber dann war es doch eine Überraschung. Ein klarer, kalter Novembernachmittag im Jura, erster Schnee, Rückenschmerzen, Hexenschuss. Tags darauf Husten und Schnupfen, wir kennen es alle. Die Rückenschmerzen waren inzwischen so stark, dass ich mit einem Wanderstock umhergehen musste. Ohne Stock kein Hinsetzen oder Aufstehen und dann, am Sonntagmorgen, am Lavabo stehend, wird die Umgebung plötzlich grau, Schweiss schiesst aus allen Poren, ich klammere mich an den Wanderstab – und viel später erwache ich erstaunt auf den warmen Bodenplatten des Badezimmers.

«Ach was» denke ich, «ich verdumme und vergreise jeden Tag etwas mehr», das gehört jetzt auch dazu, Corona kann das nicht sein. Den empfohlenen Abstand hatte ich stets gewahrt, literweise Desinfektionsmittel verbraucht, eine Maske getragen – das volle Programm. Mich trifft diese «Grippe» auf keinen Fall. Zwei Tage und zwei durchhustete Nächte später, nun ohne Geschmackssinn, war der Fall klar – Corona.

Und jetzt die die grosse Frage: Wer war das, wer hat mich angesteckt? Viele Verdächtige, viele Möglichkeiten, keine Antwort. Wen habe ich angesteckt, wer sind meine Opfer? Einigen habe ich gestanden, dass ich der Täter war, anderen nicht, auch nicht im Restaurant, welches nach meinem Besuch schliessen musste. Was tun? Nichts – ausser Warten auf die baldige Genesung. Der Husten wird schlimmer, wird zum treuen Begleiter trotz Medikamenten, das Halsweh ätzt, der Hunger bleibt weg, Sehstörungen mit extremen Farben und schwebenden Tupfern kommen und gehen. Der Appetit bleibt weiterhin aus, ein paar Tage, schliesslich sind es knappe zwei Wochen ohne Nahrung, dazu Durchfall. Gut, dass man zu diesem Zeitpunkt schon so beduselt ist, dass man das Ganze gar nicht mehr richtig wahrnimmt, auch nicht, dass einem das Kurzzeitgedächtnis kontinuierlich abhandenkommt. Der Geruchssinn hat sich jetzt verselbständigt und gaukelt Aromen von Kläranlagen und Kompost vor.

Die Körpertemperatur funktioniert nach eigenen Gesetzen und pendelt zwischen Schüttelfrost mit spastischem Zucken und Hitzewellen, gleich Ebbe und Flut. Der Atem wird kurz, die Tage im Dezembergrau hinterlassen keine Erinnerung. Die Zeit verblasst und schliesslich ist es Weihnachten geworden. Gelüste nach allerlei Leckereien ziehen wie Fata Morganas vorbei. Sobald das Essen vor mir auf dem Teller liegt, graust mir davor. Unzählige Medikamente stehen inzwischen auf dem Wägelchen neben dem Bett, Tee fliesst literweise, ich schwitze so, wie in der Sauna, tagein tagaus. Schleichend wird mein Gedächtnis schlechter, unzuverlässig, die Vergesslichkeit erinnert mich an meinen dementen Vater, doch das stört mich nicht, ich bin zu schwach für Emotionen.

Der Dezember scheint flau, die roten Lichter des Krans, der auf dem Gelände der der Kantonschule steht, sind nachts die treuen Begleiter. Auf einmal beginnen die Beine und Füsse derart zu schmerzen, dass ein Gehen ohne Krücken nicht mehr möglich ist. Also: neue starke Medikamente, welche den stechenden Schmerz für sechs Stunden lindern, ein weiterer Energiefresser. Gelüste kommen und gehen, sobald meine Partnerin das Gewünschte serviert, mag ich die Speisen kaum angucken. Wäähhh …

Im neuen Jahr und acht Kilogramm leichter, die erste kleine Mahlzeit, eine heftige Erinnerung an Kindertage: Hörnli und Gehacktes mit Apfelmus, die wohl beste Mahlzeit in meinem Leben.

Der erste Spaziergang, am Abend des Dreikönigtages, ganze 200 Meter weit. Die wenigen Schritte kosten so viel Energie wie eine anstrengende Bergwanderung. Hinter den nachbarlichen Fenstern leuchten noch einige Weihnachtssterne. Zu meinem grossen Erstaunen stelle ich jetzt fest, dass Weihnachten stattgefunden hat, ich Weihnachten verpasst habe, ein neues Jahr angebrochen ist, ich noch lebe und mich verändert habe.

Was bleibt?
Die Erinnerungen an den Corona-Winter sind vielfältig, aber mehrere Wochen davon in der Erinnerung komplett gelöscht. «Du hast eine Grippe, kein Problem, Corona gibt es nicht», wurde mir im November gesagt. Die Reaktionen aus dem persönlichen Umfeld spiegeln die allgemeine Lage. Da waren die Schönredner, Freunde, welche fast täglich Mut machten, «gute Freunde», welche verstummten, wunderbare Nachbarn, helfende Bekannte. Nicht zu vergessen die unzähligen Tipps, gut gemeint und wohlwollend, aber zwecklos. Plötzlich realisiert man, was selbst eine kleine elektronische Zuwendung via WhatsApp auszulösen vermag.

Jetzt, im Juli 2021, verblasst die Krankheit ganz langsam. Long Covid mit all seinen Trabanten meldet sich täglich, weder Geruchs- noch Geschmackssinn haben sich zurückgemeldet, dafür die Müdigkeit als ständige Begleiterin. Das Gleichgewicht ist gestört, es kann nur besser werden. Rückblickend wäre ein Spitalaufenthalt wohl das einzig Richtige gewesen.

Wo stehen wir heute?
Noch immer auf der Suche nach den Schuldigen? Warum schürt Covid-19 so viel Hass und Bösartigkeit? Die Gesellschaft hat sich verändert und ist gespalten. Die einen glauben einem veganen Koch eher als einer Ärztin. Schweizerfahnen flattern an Demos und Trychlegruppen marschieren gegen die virale Schweizer Diktatur. Judensterne, welche für Millionen von Ermordeten stehen, werden auf die Brust gepinnt. Höhenfeuer lodern und künden vom Kampf – nicht gegen das Virus, sondern gegen diesen Staat, der schliesslich für das komplette Corona-Desaster verantwortlich gemacht wird. Bill Gates lässt Chips implantieren und die Juden sind natürlich auch unter den Erfindern des Covid-19-Virus zu finden. Der Riss geht quer durch Familien und Gesellschaften und zeigt, wie schnell es geht, bis auch ein sattes und reiches Land von Existenzängsten angefressen wird. (Die Stimmung erinnert an die unselige Zeit des Franzoseneinfalls.)

Warum glauben und vertrauen so viele nur jenen Nachrichten, welche ihnen in den Kram passen? Ein Religionsersatz? Querdenken kann zweifellos ein kreativer Vorgang sein, er sollte nur nicht abqualifizierend und lieblos, gehässig enden. Dann lieber noch einmal nachgedacht, auch wenn es nur geradeaus ist. Das Coronavirus mit allen seinen Mutationen ist ein Krankheitserreger, der jeden treffen kann, ob er es glauben will oder nicht.

Fazit: «Du ‹forschst› nicht, wenn Du auf YouTube Verschwörungsvideos guckst. Du bist nicht ‹skeptisch›, wenn Du jeden Unsinn der Videos glaubst. Du ‹philosophierst› nicht, wenn Du Dein Umfeld über Twitter ungefragt mit Fake News eindeckst.»

Über Christoph Rast
Christoph Rast leitete viele Jahre die Stadtbibliothek in Olten. Heute beschäftigt sich der 71-Jährige mit einigen Literatur- und Geschichtsprojekten.

Text: Christoph Rast & Bild: EMU