Mit spitzer Feder

Meinrad Kofmel

Die mondlose Nacht hatte den Vatikan in eine schwarze Soutane gehüllt. Nur im Arbeitszimmer eines verzweifelten Kardinals brannte noch Licht. Sein Auftrag: das meistverkaufte Buch aller Zeiten in eine moderne, gendergerechte Sprache übertragen. Die Arbeit bereitete ihm Kopfzerbrechen und viele schlaflose Nächte wie diese, in der er über den zehn Geboten brütete.

«Du sollst Vater und Mutter ehren» schliesst Alleinerziehende und Gleichgeschlechtliche aus, sagte er sich, und bekreuzigte sich beim zweiten Gedanken hastig. Den Vater vor die Mutter zu stellen, dürfte als diskriminierend ausgelegt werden, und binäre Geschlechtsbegriffe wie «Vater» und «Mutter» hatten sowieso ausgedient. «Das Elter» ersetzte sie gendergerecht. Also schrieb er: «Du sollst das Elter und, falls vorhanden, das Elter ehren.» Dann schloss er die Augen und stellte sich vor, wie ein spielendes Kind von der Schaukel fällt, zu weinen beginnt, in die offenen Arme seiner Mutter rennt und schluchzend ruft: «Elter, Elter, mein Knie tut so weh!» Kopfschüttelnd zerknüllte er den Zettel.

Treue dürfte ihm leichter fallen als Elternschaft, dachte er. «Du sollst nicht ehebrechen.» Er grübelte. Wenn dem Gebot Folge geleistet würde, wäre eine maximal treue Welt mit möglichst vielen Ehepaaren zu erreichen. Folglich dürfte niemandem die Ehe verwehrt werden. Erneut bekreuzigte er sich. Ihm war, als wäre ihm eine Frucht vom Baum der Erkenntnis geschenkt worden, die ihn einsehen liess, dass der Gedanke, die Bibel zu gendern, ein Kardinalfehler war und die reine Form den wahren Inhalt niemals würde ersetzen können.

Der Autor hofft, dass in der Schweiz am 26.9. viel mehr Menschen das Recht auf eheliche Treue zugestanden wird…