Der ausgelutschte Begriff von der Legende wird ihm nicht mehr gerecht, der Mann schlägt nicht nur dem Alter, sondern immer wieder auch noch seinen Gegnern ein Schnippchen – und ist am Montagabend zu seinen zehnten aufeinanderfolgenden Sommerspielen in Tokio abgereist: Heinz Frei. Wenn der 63-jährige Oberbipper sagt, er sei bereit, eine allfällige Chance zu packen, sollten seine Gegner sich schon mal warm anziehen.
Heinz Frei, weshalb sind Sie ein so grosszügiger Mensch?
Heinz Frei (zögert): … wie genau meinen Sie das jetzt?
Nun, Sie treten auch mit 63 Jahren nicht zurück – und geben Ihren Gegnern so nach wie vor die Chance, den grossen Heinz Frei zu schlagen …
(lacht) Stimmt! Das habe ich kürzlich in einem Interview tatsächlich mal gesagt … Ich bin natürlich meiner Liebsten, Rita, gegenüber grosszügig. Aber auch gegenüber mir selber. So versuche ich, meinem Körper genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Ich glaube, es ist mir gelungen, mit viel Disziplin und Eigenverantwortung meinem Körper ein Extra abzuverlangen, ohne welches ich meine sportliche Karriere nicht mit diesen Erfolgen und schon gar nicht über Jahrzehnte hätte leben können. Das wiederum löst dann auch eine extreme Dankbarkeit und Demut meinem Körper gegenüber aus.
Ich würde mich schon auch als nahbar, offen und geduldig bezeichnen. Und wenn ich den Menschen meine Lebensgeschichte erzählt habe, ist es für mich selbstverständlich, dass ich mir auch ihre Geschichte anhöre. Nach einem Unfall bei einem Berglauf sass ich als 20-Jähriger plötzlich im Rollstuhl, war abhängig von anderen und sah viele Träume von mir mit einem Schlag entschwinden … Ich habe mein Lächeln irgendwann wiedergefunden und finde, ich bin meinem Schicksal auch verpflichtet, weil ich reichlich profitieren konnte in meinem Leben. Da gebe ich der Gesellschaft gerne etwas zurück.
Und jetzt sind Sie ab dieser Woche zum 16. Mal an Paralympics mit dabei. Wahnsinn!
In der Tat: Seit ich 1984 erstmals an Sommerspielen teilgenommen habe, sind dies die 10. Paralympics hintereinander, ohne Unterbruch. Hinzu kommen sechs Teilnahmen an den Winterspielen. Seit 37 Jahren war ich auf den Tag immer parat und wurde aufgrund meiner Leistungen selektioniert. Das ist schon aussergewöhnlich. Es ist mir im Laufe der Jahre gelungen, immer wieder eine Schippe obendrauf zu legen.
Es ist ja nicht so, dass da keine Konkurrenz wäre, die von hinten drückt, oder?
Natürlich nicht! Deshalb fehlen auch mir manchmal die Worte, dass ich noch immer mit der erweiterten Weltspitze mithalten und ihr ab und zu ein Schnippchen schlagen kann. Ich bin sicherlich ein Trainingsweltmeister und kann trainieren wie ein Ochse. Aber eben: Für mich ist es ein Dürfen, zu trainieren, schöne Touren zu machen, all dies ist verpackt mit Freude und Enthusiasmus.
Der Spruch mit der «lebenden Legende» ist ausgelutscht, trifft in Ihrem Fall aber zu. Einverstanden?
(lacht wieder) Wenn Sie mich so nennen wollen … Beim London-Marathon kündigte mich der Speaker auch schon als «godfather of wheelchairsport» an. In solchen Momenten werde ich schon sehr emotional. Als der Coach der Brasilianer im Paraplegikerzentrum in Nottwil auftauchte, bezeichnete er mich als «Pele des Rollstuhlsports». Es scheint, dass ich Spuren hinterlassen habe.
Wie sieht ihr Ablauf in Tokio nun aus?
An diesem Montagabend (am 23. August, die Redaktion) geht es los. Wir Paracycler sind als letzte Gruppe unseres Teams gereist, sind aber auch erst nächste Woche dran mit unseren Wettkämpfen. Ich selber starte am 31. August mit dem Einzelzeitfahren über 25 Kilometer, am 1. September findet dann das Strassenrennen statt, tags darauf die Team-Staffel. Ich bin gespannt und freue mich natürlich darauf, dann vor Ort die Strecke anschauen und besichtigen zu dürfen.
Sind Sie im gleichen olympischen Dorf wie die Teilnehmer der Olympischen Spiele untergebracht?
Es ist das gleiche olympische Dorf. Allerdings, und das ist der grosse Wermutstropfen bei diesen Spielen für mich, werden wir Paracycler in der Ferienregion in der Nähe des Mount Fuji Quartier beziehen. Wir werden also nie im Olympiadorf sein, es werden keine Begegnungen mit anderen Nationen und mit anderen Athleten stattfinden, was ich extrem bedaure. Schliesslich habe ich über die Jahrzehnte viele Beziehungen zu Sportlerinnen und Sportlern anderer Nationen aufgebaut.
Die Chance auf eine Medaille dürfte im Handbike-Strassenrennen am grössten sein, oder?
Ja. Da geht es auch um die richtige Taktik, das Windschattenfahren. Und weil das Gelände sehr coupiert und schwer ist, dürfte es auch eher nicht zu einer Sprintentscheidung kommen, was mir entgegen kommt. Ich konnte bisher in jedem Strassenrennen in dieser Saison mit der Weltspitze mithalten, sollte ich lange genug in der Spitzengruppe mitfahren können und an der Chance schnuppern können – wer weiss. Der Kopf wird dann in einem solchen Moment schon parat sein. Aber wissen Sie: Ich darf noch siegen, ich muss nicht mehr … Meine Teamkollegin Manuela Schär ist 36. Ich sage dann jeweils, dass das bezüglich meinem Alter sicher ein Schreibfehler ist …
Japan ist für Sie sowieso immer eine Reise wert, oder? Sie werden dort ja verehrt wie kaum anderswo auf der Welt, mit ihren unzähligen Marathonsiegen und dem noch immer gültigen Weltrekord, den Sie am Oita Marathon realisiert haben.
Ja, das ist tatsächlich so. Die Paralympics 2021 sind im Prinzip nur eine Reise mehr nach Japan, das war auch mit meine grosse Motivation, mich nochmals für diese Spiele qualifizieren zu können. Ich habe 1983 erstmals am Oita Marathon teilgenommen und diesen 1989 dann auch zum ersten Mal gewonnen. Zehn Jahre später, bei meinem 10. Sieg, stellte ich den noch immer gültigen Marathonweltrekord auf (1 Std. 20 Min 14 Sek, die Red.). Ich bin dort längst Ehrenbürger, was bedeutet, dass man hierarchisch in der Gesellschaft ziemlich weit oben angelangt ist. Für den Marathon im November werden Sie mich wieder einladen, mitsamt Businessclass-Ticket.
Sie sind dabei?
Natürlich. Die Organisatoren wären zu Tode betrübt, wenn ich nicht käme. Das ist Japan – und klar hat mir dies in der Vorbereitung einen zusätzlichen Motivationsschub verliehen.
Sie sind auch als Speaker tätig, haben am 1. August Reden gehalten. Welches war Ihre Botschaft?
Ich bin dieses Jahr in Roggwil und im zürcherischen Dietikon aufgetreten, wo mich plötzlich einer aus dem Publikum grüsste: Karl Freshner, der ehemalige Trainer der Schweizer Ski-Nati. Wir kennen uns seit langem, es gab viel zu erzählen und er sagte mir, ich sei schon als junger Rollstuhlfahrer, in Magglingen, immer der Letzte gewesen, der auf der Bahn noch trainiert habe.
In Roggwil habe ich über vergangene Zeiten und über mich als ehemaligen Turner geredet und bin dann auf die Herausforderungen in unserem Leben zu sprechen gekommen. Ich habe von meiner Herausforderung erzählt, die Behinderung anzunehmen und zu wachsen, den Fokus zu schärfen. Ich habe den Staat kurz eingebracht, auch die Pandemie, die uns alle herausfordert. Und vom Sport als wunderbare mögliche Spielwiese geredet.
Sie gelten als begnadeter Redner.
Wenn ich jeweils feststelle, dass es im Publikum mucksmäuschenstill ist, dann freut und berührt mich das sehr.
Sie haben mal den bemerkenswerten Satz geprägt: «Ich weiss nicht, ob ich ohne Unfall ein so erfülltes Leben gehabt hätte!». Für Aussenstehende ist das nur schwer verständlich.
Ja, das bringt es auf den Punkt. Ich bin jetzt 63, und denke, dass man da auch zurückschauen darf. Mein Leben war reich an Begegnungen, Erfahrungen und im sportlichen Bereich an Medaillen und Erfolgen. Riesengeschichten also, die ich in dieser Form gewiss nicht erlebt hätte, wäre ich als «normaler» Fussgänger durchs Leben gegangen. Deshalb bin ich voller Dankbarkeit.