Beratungsstelle Opferhilfe / Anzeiger Thal Gaeu Olten
Die Leiterin der Beratungsstelle Agota Lavoyer engagiert sich für mehr Bewusstsein beim Thema Gewalt.

Gewalt geht uns alle etwas an

Agota Lavoyer, die Leiterin der neuen Beratungsstelle Opferhilfe, sagt, was sich ändern muss

Seit Juli hat der Kanton Solothurn in Olten eine eigene Beratungsstelle, die Hilfe für Opfer von Gewalt und Unfällen sowie für Angehörige und nahestehende Personen anbietet. Die Leiterin und Opferberaterin Agota Lavoyer hat eine klare Haltung: Um das Gewaltproblem an der Wurzel zu packen, braucht es mehr Bewusstsein. Bei Frauen und bei Männern.

Wer Agota Lavoyer auf den sozialen Medien folgt, kennt sie als Netzaktivistin, die keine Hemmungen hat, Tabus direkt anzusprechen und Fragen aufzuwerfen, die teilweise die Nackenhaare aufrichten lassen. So titelte die 40-Jährige zum Beispiel vor Wochen einen NZZ-Gastbeitrag: «Ist es schlimmer, eine Nonne zu vergewaltigen als eine Sexarbeiterin?»

Bezüglich sexualisierter Gewalt seien in unserer Gesellschaft noch zu viele falsche Glaubenssätze tief verankert. Es braucht ein Umdenken, davon ist Lavoyer, Leiterin der Beratungsstelle Opferhilfe Kanton Solothurn, überzeugt. Vor allem in der Verantwortungsfrage. «Wir können das Problem nur als Gesellschaft lösen.» Die schrecklichen Vorfälle an sich zu thematisieren, kann manchmal Sinn machen, genügt aber alleine nicht. Viel mehr sollte sich jede und jeder sich ihrer oder seiner Position bewusst werden. Sprich, sich selber die Frage stellen: Wie reagiere ich, wenn ich einen Vorfall mitbekomme? Wie gehe ich mit dem Opfer um? Und wie mit den Reaktionen, mit der das Opfer konfrontiert wird? «Viele unterstützen schlechte Reaktionen zwar nicht, halten aber auch nicht dagegen.» Denn genau dort fehlt laut Lavoyer am meisten Bewusstsein.

Fokus auf Täterschaft
Zu oft komme es vor, dass Vorfälle verharmlost werden oder dem Opfer gar nicht geglaubt wird. «Es ist schon schlimm genug, was die Opfer erleben mussten – wenn ihnen dann nicht mal geglaubt wird, oder sie sogar Auswirkungen in ihrem sozialen Umfeld oder an der Arbeitsstelle spüren – das darf einfach nicht sein.»

Der Fokus dürfe auch nicht mehr auf die betroffene Person gerichtet sein, sondern auf die Täterschaft. «Denn der Täter beziehungsweise die Täterin ist zu 100 Prozent dafür verantwortlich.» Würde Gewalt in all ihren Facetten wirklich verurteilt werden, gäbe es sicherlich weniger Fälle davon. Den Riegel müsse aber laut Lavoyer die ganze Gesellschaft schieben. Es müsse anerkannt werden, dass Gewalt an Frauen ein gesellschaftlich vordringliches Problem ist, und nicht Privatsache.

Reaktion der Männer wichtig
Die Empörung über die Vorfälle kommt vor allem von Frauen. Aber genauso wichtig sei auch die Reaktion der Männer. Auch wenn diese oft behaupten, keine Berührungspunkte mit sexualisierter und häuslicher Gewalt zu haben. «Dabei betrifft sie alle Männer mindestens so fest wie Frauen.» Denn, wenn etwas passiere, müssten Männer erst recht reagieren und die Tat verurteilen und zeigen, dass Männer nicht einfach gewalttätige und triebgesteuerte Wesen seien. Denn das sei die grosse Mehrheit nicht. «Ich bin umgeben von Feministen, aber die wenigsten bezeichnen sich so.» Das falle vielen noch schwer. Und das sei Teil des Problems. Lavoyer versteht unter Feminismus nichts anders als die Haltung, dass strukturelle Gewalt und Diskriminierung bekämpft werden müssen.

An Feierabend sitzt Lavoyer oft am Bildschirm, um in den sozialen Medien Aufklärungsarbeit zu leisten. Oft wird sie markiert und zu einem Statement aufgefordert und immer wieder von Publikationen für Interviews angefragt. Regelmässig sitzt sie an Podiumsdiskussionen auf der Bühne und erscheint in renommierten Tageszeitungen und Zeitschriften. Auch wenn das für sie heisst, sich krass zu exponieren. Es stimmt so für sie, denn schweigen könne sie einfach nicht. Zu wichtig sei das Thema. Und zu nahe gehen ihr die Erlebnisse der Betroffenen.

Beratung auch ohne Anzeige
Das Engagement lohnt sich. Immer wieder erreichen sie Rückmeldungen von Betroffenen, die ihr für den Einsatz, die Beratung und Betreuung danken. Dank ihrer Bestärkung hätten sie Mut fassen und Kraft schöpfen können. «Solche Reaktionen freuen und bestärken mich sehr.» Sie und ihr vierköpfiges Team bei der neuen Beratungsstelle Opferhilfe des Kantons Solothurn in Olten nehmen sich gerne Zeit für jede Betroffene oder jeden Betroffenen von Drohungen, Nötigungen, Körperverletzung, Raubüberfällen, sexualisierter Gewalt, häuslicher Gewalt, (Cyber-)Stalking, Unfällen mit Drittverschulden und weiteren opferhilferelevanten Straftaten. Sie zeigen bestehende Möglichkeiten auf und beraten zu den nächsten Schritten – unabhängig davon, ob Anzeige erstattet wird oder nicht. Auch, wenn die Straftat schon Jahre zurückliegt.

Viele Formen von Gewalt
Zu oft habe sie es in ihren insgesamt dreizehn Jahren in der Sozialarbeit, zuletzt bei der Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt Lantana in Bern, erlebt, dass Betroffene Hemmungen haben sich zu melden, weil sie das Erlebte selber verharmlosen oder sich nicht als Opfer sehen können. Mit dem Gedanken, es gebe sicher Schlimmeres, würden sie sich oft nur zögerlich bei der Opferhilfe melden. Wenn überhaupt. «Manchmal erst, wenn sie sich nach einem Streit der blauen Flecken am Körper bewusst werden.»

Wobei: «Es gibt viele verschiedene Arten von Gewalt. Eine ganz subtile Art ist zum Beispiel das Installieren einer Verortungs-App auf dem Smartphone.» Wenige sind sich der vielen Formen von Gewalt bewusst. Auch daran arbeitet die vierfache Mutter. Aktuell auch in ihrem neuesten Projekt: ein Kinderbuch. Denn ein gesundes Bewusstsein kann nie früh genug gelernt werden.

Beratungsstelle in Olten
Zehn Jahre lange hatte der Kanton Solothurn gemeinsam mit dem Kanton Aargau eine Beratungsstelle geführt. Seit Juli hat der Kanton Solothurn einen eigene Beratungsstelle.

Die Beratungsstelle Opferhilfe des Kantons Solothurn ist nun an der Industriestrasse 78 in Olten (im Gerolag- Center) jeweils Montag bis Freitag von 8.30 bis 12 Uhr und 13.30 bis 16 Uhr erreichbar. Eine persönliche Beratung ist nach Vereinbarung auch in Solothurn möglich. Tel. 062 311 86 66.

opferhilfe.so.ch

Beratungsstelle Opferhilfe / Anzeiger Thal Gaeu Olten
Für die Beschäftigung der Kleinsten ist in der Beratungsstelle in Olten auch gesorgt.
Text & Bild: DON