Mit spitzer Feder

Meinrad Kofmel

Traditionsgemäss klingelte die Grossmutter am 6. Januar nach dem Mittagessen bei Tochter, Schwiegersohn und Enkelin. Ihr Korb war gefüllt mit allerlei Geschenken, darunter ihrem legendären, selbstgebackenen Dreikönigskuchen. «Gross bist du geworden», sagte sie, ebenfalls traditionsgemäss, als sich alle um den Küchentisch versammelt hatten, zur Enkelin, die kurz von ihrem Smartphone aufblickte, die Augen verdrehte und wieder in die Welt ihrer digitalen Freunde abtauchte. «Familienschlauch! », tippte sie ins Display. So schickte sich die Grossmutter an, der Weihnachtsgeschichte zweiter Teil zu erzählen: «Drei weise Könige aus dem Morgenland waren Sterndeuter und folgten dem Stern, der sie zur Krippe zu Bethlehem führte, wo das Christkind lag. Sie brachten Gold, Weihrauch und Myrrhe als Geschenke mit und huldigten dem König der Könige.»

«Könige, echt jetzt, Grosi?», murrte die Enkelin, die doch erst noch Windeln getragen hatte. «Du meinst autokratische Diktatoren, die ihr Volk unterjochen und ausbeuten, Monarchen, die ihre Alleinherrschaft über Generationen an ihre Söhne weitervererben, weil Töchter in diesem patriarchischen System nichts wert sind. Und sie kommen mit wertvollen Geschenken. Wozu? Um diesen König zu korrumpieren?»

Die Augen der Grossmutter füllten sich mit Tränen. «Gross bist du geworden …», wiederholte sie wehmütig, brach ein Stück vom Kuchen ab und biss beherzt zu. Was konnte ihr ein Stück Plastik in Königsform anhaben, wo sie sich doch die Zähne längst an ihrer Enkelin ausgebissen hatte …

Der Autor wünscht e Guete beim Kuchen, allen Monarchen für einen Tag eine erfolgreiche Regentschaft und allen Lesern ein frohes neues Jahr.