SAC-Praesident Stefan Goerre / Anzeiger Thal Gäu Olten
Gesichert am Fels: Stefan Goerre vor einem Ausschnitt des Gäuer Panoramas

Klettern: Konzentration und Vertrauen am Fels

Sommerserie «Mit Muskelkraft und Open Air» (4): Auf der Oberbuchsiter Platte mit SAC-Präsident Stefan Goerre

Seit September 2021 ist die Oberbuchsiter Platte wieder für das Klettern zugänglich. Grund genug, um im Rahmen unserer Sommerserie «Mit Muskelkraft und Open Air» einen Versuch am Fels zu wagen. Als Begleiter stellte sich kein Geringerer als Stefan Goerre, Zentralpräsident des Schweizerischen Alpen-Clubs (SAC), zur Verfügung.

Wieviele Jahre sind es her, seit dem letzten Mal in einem Klettergarten? Vielleicht 30? Oder gar noch mehr? Seit dem letzten Aufstieg an einem Bergseil, irgendwo im Gebiet des Sustenpasses, als Reporter in einem Gebirgs-WK. Tempi passati. Gewicht und Kondition sind zwar in etwa gleich geblieben. Aber wie ist es mit den koordinativen Fähigkeiten? Mit dem richtigen Vorgehen beim Klettern, wo man als Anfänger jeweils nur eine der vier Gliedmassen bewegen soll? Und wie schwierig wird es überhaupt in der Oberbuchsiter Platte? Die Stimmung schwankt zwischen Neugier und Unsicherheit.

Mit Stefan Goerre, Kardiologe und Leiter der Herzpraxis in Olten, konnte ein erfahrener Begleiter gefunden werden: Er klettert einmal wöchentlich, ist pro Jahr vier Wochen auf Hochgebirgstour, hat schon alle 48 Viertausender der Schweizer Alpen bestiegen – und ist seit einem Jahr als Zentralpräsident des Schweizer Alpen-Clubs SAC sozusagen der höchste Schweizer Alpinist.

Während vier Jahren war die Oberbuchsiter Platte für das Klettern gesperrt, nach einer geologischen Messung, die zunächst eine Bewegung des Fels anzeigte, sich aber später als Fehlmessung erwies. Nach langen Verhandlungen mit der Gemeinde kam es schliesslich zu einer Einigung – ein sichtbares Zeichen davon ist der neue Parkplatz, den die SAC-Sektion Olten mit eigenen Mitteln und dank Zuwendungen finanziert hat. Hier steht nun das ungleiche Duo, der Routinier und der Laie, dessen vage Erinnerungen ans Klettern sich mehrfach als historisch und technisch überholt erweisen.

«Alle sprechen mich immer auf die Viertausender an, dabei ist dies weder das Schwierigste noch das Schönste, das ich in den Bergen schon gemacht habe», sagt der gebürtige Bündner lachend. Er redet lieber von Touren in Frankreich, der Cassin-Route in der Badile Nordost-Wand oder der Überschreitung Grand Charmoz–Grépon im Montblanc-Massiv. «Dies sind zwei Highlights und gehören zu meinen anspruchsvollsten Touren», erklärt Goerre, relativiert aber, dass die Spitzenleute heute bis Schwierigkeitsgrad 9c schaffen, während bei ihm die Limite bei vergleichsweise bescheidenen 6b liegt.

Klettern bis 4c sei ohne Training möglich, sagt der Fachmann. Die Oberbuchsiter Platte bietet Routen bis Schwierigkeitsstufe 5c+, mit dem Ungeübten geht es an diesem Vormittag auf einer 3a-Route empor. Das scheint einfach, bezüglich Konsequenzen sind Fehler, beispielsweise beim Anseilen oder beim Sichern, genau gleich schwerwiegend. So instruiert Stefan Goerre am Fuss des Felsens über das Anseilen, das Sichern und die verwendeten Hilfsmittel, über die vier Knoten (Achterknoten, Prusik, Halbmastwurf und Mastwurf), die man als Basis beherrschen muss, über Expressschlingen, Tuber zum Abseilen und die fix installierten (gebohrten) Sicherungshaken.

SAC-Praesident Stefan Goerre / Anzeiger Thal Gäu Olten
Beim Abseilen wird das 9-mm-Seil doppelt genommen.


«Die Bergsteigerei hat heute nichts mehr mit der Risikofreudigkeit des einstigen Eroberungs-Alpinismus zu tun», betont Stefan Goerre. «Klettern soll sicher sein, Spass machen und ein schönes Sport- und Natur-Erlebnis vermitteln!» Klettern sei eine langsame Tätigkeit, ein Spiel mit dem Gleichgewicht, der Reibung der Kletterschuhe auf dem Fels und der Fingerkraft. «In den Bergen kann man gut abschalten. Es ist eine einfache, archaische, aber extrem ästhetische Welt. Alles Künstliche, die Sachzwänge des Alltags, das kann man hier vergessen», sagt Goerre. Aufgewachsen in Thusis, war ihm diese Welt von Klein auf vertraut. «Der Alpinismus vermittelt aber auch wichtige menschliche Werte wie etwas korrekt und konzentriert tun, Zusammenhalt, Vertrauen haben und Verantwortung übernehmen.»

Wer klettert, der ist gesichert, und so muss der Vorkletterer, in diesem Falle der Geübte, sich auch auf die Sicherung durch den Neuling verlassen können. Selbst wenn auf dem trockenen, von der Sonne erwärmten Fels für den Routinier keine wirklichen Herausforderungen warten – jeder Handgriff, jede Kontrolle eines Knotens wird so vollzogen, als ginge es um ein ganz anderes Kaliber von Berg. Das bringt gleich mehrere Erkenntnisse: Man kann nicht «ein bisschen» klettern, und im Gegensatz zu anderen Themen dieser Sommerserie geht es hier definitiv nicht ohne Vorkenntnisse beziehungsweise kundige Führung.

Apropos Führung: Es war eher Zufall, dass der 63-jährige Arzt in eine derartige Rolle gerutscht ist. Zwar hatte er die ganze alpinistische SAC-Laufbahn von der JO über den Tourenleiter bis zum Tourenchef des Vereins durchlaufen, eine Funktionärskarriere hingegen war nicht geplant. In seiner Sektion Olten übernahm er das Präsidium nur, weil der bisherige Präsident nach 14 Jahren zurücktreten wollte und sich niemand für dieses Amt zur Verfügung stellte. «Es war für mich eine neue Erfahrung, denn bis dahin kannte ich den Bergsport primär von der aktiven Seite. Anderseits weiss ich, wovon ich spreche.» Diese Funktion wiederum brachte ihn mit den Verantwortlichen des Landesverbandes in näheren Kontakt, und nach neun Jahren Sektionspräsident wurde er in den Zentralvorstand gewählt. Eher überraschend war für ihn, dass er nach dem Rücktritt der bisherigen Zentralpräsidentin wegen der Amtszeitbeschränkung für die Nachfolge vorgeschlagen wurde – und so «rutschte» er 2021 schliesslich ganz nach oben. «Der SAC und das Bergsteigen haben mir schon so viel gegeben, so kann ich etwas zurückgeben.»

Die erste Seillänge, in diesem Fall circa 30 Meter, zum ersten Stand ist geschafft. Die Expressschlingen, mit denen sich der Vorkletterer an den fixen Haken eingeklinkt hat, wurden beim Hochklettern wie instruiert eingesammelt. Nun wird die Sicherungsschlinge mit dem Karabiner in den Standhaken eingehängt (Selbst-Sicherung), und jetzt kann auch ein Blick in die Gäuebene und zu den im Dunst nur schlecht erkennbaren Alpen gewagt werden. Nach der zweiten Seillänge ist die Route zu Ende und Stefan Goerre bereitet das Abseilen vor. Der Neuling staunt über die Gerätschaften, mit denen man heutzutage am Fels unterwegs ist, und zieht eine erste Bilanz: Das war wirklich noch einfach.

SAC-Praesident Stefan Goerre / Anzeiger Thal Gäu Olten
Expressschlingen: Ein wichtiges Utensil zur Sicherung beim Vorklettern.


Seit einem Jahr steht Stefan Goerre an der SAC-Spitze, ein Jahr, zu dem er eine positive Bilanz zieht. «Man hat mir viel Wohlwollen entgegengebracht», sagt er. Im Gegensatz zu den Indoor-Aktivitäten hat der Bergsport während der Pandemie an Attraktivität gewonnen. «Bezüglich Mitgliederzahl sind wir in dieser Zeit auf Rang 4 unter den Schweizer Sportverbänden vorgestossen.» Die Belegung der 153 SAC-Hütten hat nicht nur zugenommen, wegen der coronabedingten Limiten hat sich die Auslastung besser auf die ganze Woche verteilt. Aber es gibt für ihn auch andere Erfahrungen: Zugangsbeschränkungen fürs Klettern wie beispielsweise in der Oberbuchsiter Platte und Wildruhezonen beschäftigen die Verbandsspitze ebenso wie das unkorrekte Verhalten anderer Berggänger. Persönlich staune er manchmal, wie sich gewisse Mitglieder über einen Aspekt ärgern können und vergessen, dass ein so grosser Verband wie der SAC in vielen Fragen mit Spannungsfeldern konfrontiert ist und manchmal auch Kompromisse eingehen und pragmatische Lösungen finden muss. «Wir müssen auch schauen, dass sich die SACZentrale nicht von der Basis abkoppelt.»

Der Fuss des Kletterfelsens ist erreicht, der Debütant abgekoppelt. Das Abseilen, abgesehen von einem unachtsamen Stolperer, verlief mühelos. Gleichzeitig steigt die Motivation, an den Fels zurückzukehren an die Platte, wo es mehrere Routen bis 160 Meter Länge und mit Schwierigkeitsstufe 4c hat. Eigentlich gäbe es noch Anspruchsvolleres, aber es ist doppelt ratsam, beim Klettern die Bodenhaftung nicht zu verlieren…

Zwei Karten aus verschiedenen Epochen: Links die aktuelle Zeichnung des Klettergartens mit den Routen, rechts der Grundbuchplan von 1877, als es noch ein Steinbruch war.

Text & Bild: NRU