Seit rund einem Monat lebt sich die kleine Wisent-Herde auf der Sollmatt in Welschenrohr ein. Projektleiter Otto Holzgang und Wisent-Ranger Benjamin Brunner sind zufrieden. Ob die Tiere hier dereinst wirklich wild leben können, hänge jedoch von vielen Faktoren ab.
Da sind sie, die fünf Wisente, und machen ihrem Beinamen als «sanfte Riesen» alle Ehre. Friedlich geniessen sie das Sonnenbad in ihrem Eingewöhnungsgehege auf der Sollmatt in Welschenrohr. Liegen langgestreckt im Gras, die Hörner voller Zweige, die von den Büschen am Waldrand stammen. Fast so, als wären sie nicht erst vor wenigen Wochen aus dem Tierpark Langenberg in Zürich nach Welschenrohr gezogen. Als wären ihre Vorfahren nicht vor rund 1000 Jahren ausgerottet worden. Und als wäre ihre Rückkehr ins Thal nicht erst nach jahrelangem Hin und Her und einem Entscheid des Bundesgerichts möglich gewesen. Von den Auseinandersetzungen zwischen Landbesitzern, die Waldschäden durch die Tiere befürchten, und dem Verein Wisent Thal haben sie nichts mitbekommen. Projektleiter Otto Holzgang und Wisent-Ranger Benjamin Brunner, die an diesem sonnigen Tag auf der anderen Seite des Zaunes stehen, schon. Beide setzen sich seit Jahren für den Verein ein, der in den kommenden fünf Jahren die Frage beantwortet haben will: Sind Wisente als Wildtiere im Thal tragbar?
Grosses Interesse
Benjamin Brunner erzählt begeistert davon, wie er die vergangenen Wochen erlebt hat. Die Tiere hätten sich in ihrem neuen Zuhause überraschend gut eingelebt. Bereits nach drei, vier Tagen hätten sie sich in den Wald getraut und auch das erste Zusammentreffen mit dem Hund einer Spaziergängerin sei gut vonstatten gegangen. Beides, Wald und Hunde, gab es im Tierpark Langenberg nämlich nicht.
Brunner gehört ein Teil des Gebiets, auf dem die Tiere die nächsten fünf Jahre leben. Die Bürgergemeinde Solothurn ist die zweite Grundeigentümerin. Als Wisent-Ranger kümmert er sich um deren Gesundheit, beobachtet die soziale Struktur der Herde und steht Besucherinnen und Besuchern für Auskünfte zur Verfügung. Besuch gab es in den letzten Wochen viel. Gefühlte 200 Interessierte, aus der Region aber auch der ganzen Schweiz, habe es am ersten Wochenende auf die Sollmatt verschlagen. Darunter seien auch sehr kritische Leute, ja gar Gegner des Projektes gewesen. «Dass sie sich trotzdem ein eigenes Bild vor Ort machen, ist ein Qualitätsmerkmal für diese Leute», sagt der Landwirt.
Umgang mit den Tieren
Der Verein Wisent Thal will über fünf Jahre lang beobachten, wie sich die Wisente in der Juralandschaft verhalten. Dafür wird in einem ersten Schritt Ende Oktober das Eingewöhnungsgehege geöffnet. Rund zwei Jahre lang können sich die Tiere dann in einem 50 Hektar grossen Gebiet aufhalten, welches durch einen bis zu zweieinhalb Meter hohen Zaun eingegrenzt ist. Per Durchgang können sich hier auch Spaziergänger, Velofahrer oder Jäger ein und aus bewegen. Danach wird das Gelände auf rund 100 Hektaren vergrössert. Drei Jahre später wird eruiert, ob der Zaun ganz entfernt werden soll und die Wisente unter strenger Beobachtung durch den Verein in freier Wildbahn leben und sich auch in den angrenzenden Wäldern der ersten Jurakette aufhalten können. Nach welchen Kriterien ein solcher Entscheid genau gefällt wird, stehe noch nicht fest, sagt Otto Holzgang. Ob die Tiere dereinst tatsächlich wieder wild im Jura leben, hänge von verschiedenen Faktoren ab. Davon, ob sie forst- und landwirtschaftlich relevante Schäden verursachen, vom Einfluss, den sie auf die Natur haben, und von der Akzeptanz der Bevölkerung im Thal. «Die Wisente müssen wirtschaftlich, ökologisch und gesellschaftlich tragbar sein», so Holzgang.
Zu dieser gesellschaftlichen Tragbarkeit gehört auch der richtige Umgang mit den Tieren. Das direkte Aufeinandertreffen zwischen Mensch und Wisent wird mit fortschreitendem Projektverlauf und zunehmender Grösse des Geheges immer seltener. Wisente seien ausserdem grundsätzlich sehr sanfte und scheue Tiere, so Otto Holzgang. Dennoch gibt es einige Dinge, die zu beachten sind. So sollte immer ein rund 50 Meter grosser Abstand zu den Tieren gehalten werden, erklärt Otto Holzgang. Komme ein Wisent auf einen zu, scharre er gar mit den Hufen oder wackle mit dem Kopf, solle man sich langsam vom Tier wegbewegen.
Auch an diesem Tag gibt es eine solche Situation. Der einzige Bulle der Herde kommt überraschend nahe an den Zaun und Holzgang gibt das Zeichen, etwas Abstand zu nehmen. Der Bulle steht noch einige Zeit imposant da, bevor er sich gemächlich in Richtung Wald bewegt. Wo auch schon der Rest der Herde ist.
Die Natur zurückbringen
Dass die Wisente Notiz von den Menschen nehmen, sehen Brunner und Holzgang nicht so gerne. Genau das Gegenteil sei das Ziel. Im Idealfall ignorieren die Wisente Zweibeiner künftig nicht nur, sie ziehen sich sogar zurück, wenn sie auf einen treffen. Aus Tierpark-Bewohnern, die sich interessierte Besucherinnen und Besucher gewohnt sind, sollen wieder Wildtiere werden. Doch geht das überhaupt? Ja, sagt Benjamin Brunner. Er erlebe es bei seinen Mutterkühen. «Jedes Jahr, wenn ich sie über den Sommer auf der Weide lasse, verwildern sie mir ein bisschen. Wenn ich sie im Winter reinhole, geht es immer ein paar Tage, bis ich sie wieder anfassen kann wie zuvor.»
Brunner hat in seinem Betrieb vor 20 Jahren auf Mutterkuhhaltung umgestellt und dort gelernt, wie es ist, Tiere wieder näher an ihre natürlichen Verhaltensweisen zu bringen. Das nützt ihm heute. Immer wieder vergleicht er die Wisente mit seinen Mutterkühen. «Wiederkäuer sind Wiederkäuer», sagt er. Vor rund sechs Jahren kam Brunner das erste Mal mit der Idee der Wisente im Thal in Berührung. Vor allem das Bewusstsein darüber, dass diese Tiere vor rund 1000 Jahren bereits einmal hier lebten, dass sie mal haarscharf ausgestorben wären, beeindrucke ihn. Für ihn ist die Arbeit mit den Ur-Rindern ein weiterer Schritt, die Natur zurückzubringen. Bleibt abzuwarten, ob die Rückkehr der Wisente nach knapp tausend Jahren möglich ist.
Vergleichsprojekt in Deutschland gescheitert
Just nimmt das Thaler Wisent-Projekt an Fahrt auf, scheitert ein ähnliches Projekt in Deutschland. Im Rothaargebirge in Nordrhein-Westfalen lebt seit 2013 die einzige freilebende Wisent-Herde Westeuropas. Ähnlich wie im Thal wurde die Auswilderung von einem privaten Verein angestossen. Nun hat dieser Trägerverein das Projekt frühzeitig beendet, einen bestehenden öffentlich-rechtlichen Vertrag gekündigt und die Tiere als herrenlos bezeichnet. Was nun mit der Wisent-Herde geschieht, ist unklar. Vorausgegangen waren dem Abbruch Klagen von privaten Grundbesitzern. Die Wisente hatten durch das Abschälen von Baumrinde Schäden an deren Buchen verursacht. Nun wurde ein Urteil des zuständigen Oberlandesgerichts rechtskräftig, wonach die Kläger die Tiere nicht mehr auf ihrem Grund und Boden dulden müssen.
Der Verein Wisent Thal hat bis vor Kurzem auf seiner Website auf das deutsche Projekt verwiesen. Dessen Ende sei überraschend gekommen, sagt Otto Holzgang. Dennoch will er daraus keine schlechten Vorzeichen für das Vorhaben im Thal erkennen. Das liege etwa an unterschiedlichen Voraussetzungen. Durch das langwierige Verfahren bis und mit dem Urteil des Bundesgerichts habe das Thaler Projekt eine hohe Legitimität. «Auch wenn es sehr anstrengend war, ich bin froh, dass das Projekt diesen Weg im Vorfeld gemacht hat.» Ausserdem würden klare Besitzverhältnisse herrschen. Die Wisente gehörten dem Verein Wisent Thal, auch wenn das Projekt scheitert.
Die Gegner der Thaler Wisent-Herde sehen sich durch das Beispiel aus Deutschland trotzdem in ihrer Kritik bestätigt.