Als ich in den Neunzigerjahren bei der Oltner Bahnpost mein studentisches Zubrot verdiente, war von jedem der Pöstler bekannt, ob er «ein Roter» oder «ein Schwarzer» war. Die linke und die christliche Gewerkschaft hatten den Personalkörper zu praktisch hundert Prozent abgedeckt und die jeweiligen Mitglieder identifizierten sich zum gleichen Prozentsatz mit ihrem Personalverband. Es war keine Frage, ob man einer Gewerkschaft beitrat, höchstens welcher. Das gleiche Bild in der Uhrenindustrie, in der von Roll, auf dem Bau. Büezer waren in einer Gewerkschaft. Punkt.
Dieser Fakt hat sich aufgelöst. Irgendwie verloren die Gewerkschaften ihre Basis – und die Arbeitgeberverbände übrigens auch. Wohlstand war selbstverständlich geworden, man wechselte seine Stelle und die Branche häufiger und sowieso machte dieser Kampf zwischen Patrons und Büezer doch keinen Sinn mehr, weil ja gar niemand mehr Patron oder Büezer sein wollte. Auch ich dachte so.
Und nun stehen wir da, in den Zwanzigerjahren, die bisher alles andere als golden waren. In denen der Wohlstand nicht mehr so selbstverständlich scheint und die Inflation den Lohn aufzufressen droht. Zwar findet man fast immer eine Stelle, doch mehr im Portemonnaie zu haben, das wird schwierig. Tja, nun braucht es ihn wohl wieder, den Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Und wenn ich als alter «Schwarzer» in diesen Tagen einen – vielleicht unerwarteten – Rat geben darf, dann diesen: Geh (wieder) in die Gewerkschaft!
Stefan Müller-Altermatt findet es schade, wenn die Leute bloss die Faust im Sack machen, statt sich zu organisieren