In Zeiten wie diesen sollten wir alle in unserem Alltag gut auf unsere mentale Gesundheit achten, rät Christina Hegi Kunz, Geschäftsleiterin der Dargebotenen Hand Aargau/Solothurn. «Aktives Zuhören ist ein wirksames Instrument.» Ihre Organisation lädt am 14. März zu Veranstaltungen rund um dieses Thema ein.
Gehen wir richtig in der Annahme, dass Ihre Anlaufstelle – leider! – boomt?
Das stimmt. In den letzten zehn Jahren haben die Anrufzahlen bei der Dargebotenen Hand Aargau/Solothurn um ziemlich genau ein Drittel zugenommen.
Die Entwicklung verlief linear?
Nein, der grösste Sprung erfolgte in der Coronazeit, im Jahr 2020. Zwei Jahre später erreichten wir mit 20000 Anrufen jährlich in unserem Gebiet die Höchstzahl. Die Zahlen blieben nachher deutlich höher als noch vor einem Jahrzehnt, haben sich mittlerweile aber bei ungefähr 18 000 Anrufen jährlich eingependelt. Es handelt sich dabei um die Anzahl der Anrufe auf unsere Geschäftsstelle. Nicht jeder Anruf führt automatisch auch zu einem Gespräch.
Wie meinen Sie das?
Aus Kapazitätsgründen können wir nicht jedes Gespräch sofort führen, sondern müssen den Anrufenden manchmal sagen, dass wir schon besetzt sind und es verschieben müssen. Weil unsere Gespräche in einem anonymen Rahmen stattfinden, können wir auch nicht zurückrufen, sondern müssen um einen erneuten Versuch bitten. Ob dies dann auch effektiv der Fall ist, lässt sich nicht nachprüfen.
Ihre Anlaufstelle hat zu wenig Kapazitäten?
Genau. Es ist ein Mythos und wohl unserer dreistelligen Nummer geschuldet, dass wir eine staatlich finanzierte Stelle sind. Für viele gehört die Dargebotene Hand einfach zur psychosozialen Grundversorgung, so nach dem Motto: die sind ja sowieso da. Dabei sind wir zu rund 80 Prozent auf Spendengelder angewiesen, Betriebsbeiträge der Kantone Aargau und Solothurn, Beiträge der Landeskirchen und Einnahmen für Leistungsvereinbarungen machen den Rest aus. Weil wir aber keinen öffentlichen Auftrag haben und die Finanzierung nicht gesichert ist, können wir unsere Kapazitäten auch nicht nach Belieben erhöhen. Die Höhe der Spendengelder ist zwar relativ konstant – aber wir müssen einen immer höheren Aufwand betreiben, damit das auch so bleibt. Wenn wir im November einen Spendenbrief verschicken und sich zwei Tage später ein Tsunami ausbreitet oder eine Spendensammelorganisation zu einer spontanen Aktion aufruft, spüren wir das. Aktualität konkurrenziert unser Angebot, das rund um die Uhr und vermeintlich selbstverständlich verfügbar ist, also. Immerhin: Gerade in den Abendstunden konnten wir teilweise von Einzel- auf Zweierschicht aufstocken. Das hilft und entlastet schon sehr.
Gibt es eine Art Erfolgsquote, wie oft Ihre Beratung «erfolgreich» ist, Sie also ganz konkret helfen und unterstützen können?
Es gibt keine Erfolgsstatistik im eigentlichen Sinne, das liesse sich in der Realität kaum erfassen. Unsere Einschätzung erfolgt stets anhand der Rückmeldungen an unsere Beratenden. Das kann via Feedbackformular auf unserer Website erfolgen, oder aber, wenn uns jemand anruft oder schreibt, er/sie habe gestern mit unserer Frau X oder unserem Herrn Y geredet, dieses Gespräch habe sehr gutgetan. Das sind natürlich die schönsten Rückmeldungen für uns.
Oft hören die Beratenden auch die Veränderung in der Stimme im Laufe des Gesprächs. Die Anrufer tönen leichter und heller, wenn sich eine gewisse Vertrauensbasis oder eine Entlastung in der aktuell schwierigen Situation einstellt. Das tut gut, weil man als beratende Person nach einer fünfstündigen Schicht oft nicht einschätzen kann: Wie hilfreich war ich heute als Gesprächspartnerin?
Welches sind die Gründe für die Zunahme der Nachfrage nach Ihrer Dienstleistung?
Am Ende eines Gesprächs halten wir jeweils fest, welches das wichtigste Thema respektive die drei wichtigsten Inhalte des Gesprächs waren. Deshalb können wir verlässlich sagen, dass es über die Jahre keine inhaltlichen Ausreisser gab und die «Spitzenreiter» vor zehn Jahren wie heute die gleichen sind: Alltagsbewältigung, psychische Gesundheit und Beziehungsprobleme.
Dann gibt es Themen, die zwar prozentual nicht ins Gewicht fallen, bei denen aber ebenfalls eine Zunahme festzustellen ist: Gewalt oder Suizidalität. Fachleute gehen davon aus, dass es nicht unbedingt mehr Fälle gibt, sondern aufgrund einer gewissen Enttabuisierung mehr Menschen den Mut haben, darüber zu reden.
Eine gute Entwicklung…
Genau! Ein wichtiger erster Schritt. Wir können die Anrufenden ermutigen, Fachleute aufzusuchen. Gerade beim Thema «häusliche Gewalt» ist es wichtig, dass wir den Anruferinnen sagen können, dass sie sich melden sollen, weil sie Gewalt nicht einfach zu erdulden haben. Wenn wir dann beispielsweise von einer Beratungsstelle die Rückmeldung erhalten, jemand habe sich bei ihnen gemeldet und gesagt, es habe genau noch dieses eine Gespräch mit 143.ch gebraucht, dann tut uns dies gut. Wir sehen: Unsere Arbeit trägt Früchte.
Die Dargebotene Hand lädt am 14. März schweizweit zu Events rund ums Zuhören ein. Weshalb?
Weil es ganz einfach wichtig ist, die Menschen für diese Thematik zu sensibilisieren. Wir möchten im Rahmen dieser Events aufzeigen, wie wertvoll es ist, dass jemand zuhört.
Tragisch eigentlich, dass wir das Zuhören offenbar verlernt haben, oder?
Nun, die einen haben diese Gabe und pflegen sie täglich. Man kann auch lernen, zuzuhören. Dazu braucht es aber Interesse, Zeit und den Fokus auf das Gegenüber. Deshalb reden wir ja von «Zu-Wendung» und «Zu-Hören». Fakt ist: Die Reizüberflutung um uns rundherum ist nicht zu unterschätzen. Wir sind ständig abgelenkt, und es ist ja einfacher, sich ablenken zu lassen, als sich auf ein Thema zu fokussieren. Deshalb geht es am 14. März darum: sich dem Thema Zuhören zuzuwenden.
Sie sprechen von Reizüberflutung. Also die Digitalisierung als Hauptproblem?
Ich glaube nicht, die Digitalisierung bringt auch viel Positives. Die grosse Herausforderung ist der Informationsüberfluss, das veränderte Kommunikationsverhalten. Dies stellt erhöhte Anforderungen an uns und ganz besonders an die Jungen. Das Problem sehe ich darin, dass wir so viele Informationen erhalten, ohne diese verarbeiten zu können. Wenn wir nicht lernen, selektiv mit diesen umzugehen, führt dies zu einer Überforderung. Abgrenzung oder auch mal innehalten können, um einzuordnen und Informationen setzen zu lassen, wäre ein guter Ansatz. Denn im Strudel unserer Zeit suchen Menschen mehr denn ja nach Orientierung.
Ist ein Workshop das richtige «Instrument », um das Zuhören wieder lernen zu können?
Ja, durchaus. Es ist ein gutes Mittel, um das Bewusstsein zu schärfen und das Interesse zu wecken. Ein Workshop soll das Thema Zuhören erfahrbar machen. Das ist ein wichtiger erster Schritt.
Was kann jede/jeder von uns im Alltag ganz bewusst tun, um zu helfen?
Plakativ ausgedrückt, ist Helfen sowieso ein zu grosses Wort. Wir bei der Dargebotenen Hand setzen auf Hilfe zur Selbsthilfe. Ich persönlich bin der Ansicht, dass «Helfen» eine Frage von Interesse und Zuwendung ist. Da kommen mir ganz einfache Begriffe in den Sinn wie Freundlichkeit und Menschlichkeit, die meine Welt besser machen. Es kann jeder von uns mal ausprobieren, wie unterschiedlich die Wirkung ist, ob er im Bus sein Gegenüber griesgrämig oder freundlich anschaut. Ich bin überzeugt, diesen Beitrag kann jeder leisten, um die Welt im Kleinen ein bisschen besser zu machen.
Was bedeutet es aus Ihrer Sicht, mental gesund zu sein?
Meine persönliche Definition lautet: Den Herausforderungen des Lebens offen begegnen zu können. Dazu gehört auch, dass ich nicht die Erwartungshaltung habe, alles allein zu schaffen. Sondern Hilfe anzunehmen, wenn ich Hilfe brauche. Das muss nicht immer fachliche Hilfe sein, oft reicht ein Gespräch mit dem Partner, mit einem guten Freund. Oft reicht es, mit jemandem – im positiven Sinne! – in die Auseinandersetzung zu gehen und Mittel und Wege zu finden, um den Blick zu öffnen.
Für viele Menschen, die Hilfe oder wenigstens ein Ohr bräuchten, braucht es enorm viel Mut, mit einer fremden Person zu sprechen. Was raten Sie jemandem, der diesen Mut fast nicht aufbringen kann?
Es noch einmal und immer und immer wieder zu probieren. Meine Erfahrung zeigt, dass es oft einfacher ist, mit einer unbekannten, fremden Person zu reden, die einem unvoreingenommen begegnet. Das ist unser Vorteil bei 143.ch: Der Schutz der Anonymität. Oder: Nähe durch Distanz! Ich mache auch mit Bekannten von mir die Erfahrung, dass sich am Telefon ein Gespräch oft tiefgründiger entwickelt, weil nur die Stimme und das gesprochene Wort hörbar ist. Man wird nicht durch Mimik, Gestik und Aussehen abgelenkt. Für diese Begegnung zählt nur der Moment des Gesprächs – nicht, was vorher war und auch nicht, was nachher sein wird.
Bei der Dargebotenen Hand kann man wählen zwischen Anruf, Chat oder E-Mail. Wie werden diese Kanäle genutzt?
Die Jungen setzen eher auf den Chat. Da ist man oft schon mit dem ersten Satz mitten im Thema: «Mein Freund schlägt mich…» Das Gros der Anruferinnen und Anrufer ist geschätzt 35-jährig und älter, wobei das natürlich nicht verallgemeinert werden darf. Verhältnismässig wenige wählen das E-Mail als Medium, da diese Kommunikation sehr anspruchsvoll und zeitintensiv ist.
Die Dargebotene Hand Aargau/Solothurn beschäftigt rund 50 freiwillige Mitarbeitende. Welche Voraussetzungen benötigt man, wenn man sich hier bei Ihnen bewerben möchte?
Interessierte können uns anrufen oder das Formular auf unserer Website ausfüllen. Wir werden uns bei ihnen melden, ihre Interessen und Möglichkeiten abstecken und sie zu einer Informationsveranstaltung einladen. Den Ausbildungskurs müssen alle Interessierten durchlaufen, egal ob sie schon Kenntnisse mitbringen oder nicht. Zuoberst steht sicherlich das Interesse am Menschen, man muss Menschen mögen, lernfähig und lernfreudig sein, offen für alle Themen des Lebens. Idealerweise steht man auch mit beiden Beinen im Leben und hat einen guten Boden. Und man benötigt Zeit für dieses grosse Pensum.
Wie oft kommen Ihre Mitarbeitenden an ihre Grenzen? Oder darüber hinaus?
An seine «normalen» Grenzen kommt jeder von uns immer wieder. Darüber hinaus ist äusserst selten. In diesem Fall gibt es auch für sie ein Notfallszenario. Das hat auch mit unserer sorgfältigen Ausbildung zu tun, bei welcher der Umgang mit den eigenen Grenzen ein wichtiger Teil ist. Zudem pflegen wir intern eine besondere Form des Austausches, weil auch wir wissen: Darüber reden hilft!
Die Organisation
143.ch ist die Anlaufstelle für emotionale Erste Hilfe in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein. National stehen rund 700 geschulte freiwillige Mitarbeitende per Telefon, Chat oder Mail Menschen in Not als Gesprächspartner zur Verfügung. Die Dargebotene Hand Aargau/Solothurn betreut die Bevölkerung der Kantone Aargau und Solothurn. Jährlich sorgen rund 50 freiwillige Mitarbeitende dafür, dass sich Menschen in Not 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr auf niederschwellige Soforthilfe verlassen können. Christina Hegi Kunz, seit 2017 Geschäftsleiterin 143.ch Aargau/Solothurn, war selbst während sieben Jahren in der Telefonberatung der Anlaufstelle tätig. 143.ch ist auch die bekannteste Anlaufstelle für akute Notfälle und trägt wesentlich zur Suizidprävention bei. E-Mail: aarau@143.ch
Der Tag des Zuhörens
Seit zehn Jahren wirbt 143.ch, sinnigerweise jeweils am 14.3., für die Fähigkeit des Zuhörens. Mit Workshops ab 13 Uhr und einem Podiumsgespräch mit Fachpersonen aus Medizin, Seelsorge und Psychologie ab 19.30 Uhr will 143.ch am Tag des Zuhörens just diese Fähigkeit den Menschen wieder näher bringen. «In einer Zeit, in der sich viele vom Weltgeschehen überfordert fühlen und die psychische Belastung der Bevölkerung allgemein steigt, sollten wir in unserem Alltag gut auf unsere mentale Gesundheit achten. Aktives Zuhören ist ein wirksames Instrument», sagt Christina Hegi Kunz, Geschäftsleiterin der Dargebotenen Hand Aargau/Solothurn.
Anmeldung für die kostenlose Veranstaltung im Stapferhaus Lenzburg am 14. März via www.143.ch