Weihnachtsgeschichte von Christoph Schwager / Anzeiger Thal Gäu Olten
Erzählt eine Geschichte im Leben des Autors: Die hölzerne Schminkkiste.

Der Schminkkoffer

Eine Weihnachtsgeschichte der etwas anderen Art von Christoph Schwager

Zu zweit sitzen wir in unserer Stube. Es ist Heiligabend. Wir sind alleine, da unsere Kinder mit ihren Kindern feiern. So vergeht die Zeit, ein wenig Melancholie lässt sich nicht verdrängen, obwohl ich diesen Moment, so wie er ist, sehr schön finde. Es ist unglaublich, welches Ambiente so ein einfacher geschmückter Tannenbaum mit ein paar Kerzen und klassische Musik im Hintergrund in eine Stube zaubern können.

Ich blicke in den Kerzenschein. Wäre ich ein Kind, würden mich vor allem die Geschenke interessieren, die unter dem Christbaum liegen. Doch von einem gewissen Alter an, und dieses habe ich nun definitiv erreicht, sind es eher die Geschenke der Vergangenheit, die einen beschäftigen. In meiner Phantasie sehe ich kleine Fenster am Christbaum hängen, Weihnachtsfenster. Darin sind nicht Schokolade oder andere Süssigkeiten verborgen, sondern Geschichten. Geschichten meines Lebens.

Welches Fenster soll ich öffnen? Jenes mit den Kindern beim Krippenspiel passt am besten. Ich öffne es.

Es ist wohl das letzte Mal, dass ich beim Krippenspiel dabei sein darf. Im nächsten Sommer wechsle ich in die Oberstufe. Dann sind andere Primarschulkinder an der Reihe und dürfen auf der Bühne stehen. Dafür bin ich dann ein Oberstufenschüler und es geht nicht mehr lange und ich darf Töffli fahren. Natürlich habe ich dies schon ein paar Mal getan, aber dann darf ich es, ohne ständig die Angst zu spüren, dass mich die Polizei erwischt.

Frau Burkhard, die Leiterin und Regisseurin des Krippenspiels, hat anscheinend endlich begriffen, dass ich zu mehr fähig bin, als bloss einen lieben Hirten oder den harmlosen Josef zu spielen, wie in den letzten beiden Jahren. Nun darf ich den Herodes auf der Bühne verkörpern. Wow! Ich freue mich riesig, diesen gemeinen Schurken darstellen zu dürfen. Da kann ich endlich zeigen, was ich drauf habe.

Die letzten Proben finden in der psychiatrischen Klinik Fridau statt. Da dieses Haus abgelegen im Wald steht, müssen wir einen Fussmarsch machen, bevor wir uns auf der Bühne einrichten können. In der Fridau hat es eine richtige Bühne mit Scheinwerfern und einem Vorhang.

Die Proben laufen gut und Frau Burkhard ist mit uns zufrieden. Eine Woche vor der Aufführung ruft sie mich zu ihr: «Christoph, könntest du deinen Vater fragen, ob er uns am Mittwochnachmittag für die Premiere schminken kann? Es wäre toll, wenn euch ein richtiger Theatercoiffeur für die Aufführung vorbereiten würde!» Ich antworte ihr, dass ich meinen Vater gerne fragen werde.

Mein Vater lächelt und sagt: «Das würde ich gerne machen, aber am Mittwochnachmittag muss ich arbeiten. Ich kann nicht einfach so meinen Coiffeursalon verlassen. Aber ich habe eine andere Lösung. Weshalb schminkst nicht du deine Gschpändli?» «Ich?», antworte ich verdutzt. «Ich habe doch noch nie geschminkt. » «Dann lernst du es halt», erwidert mein Vater. «Ich bringe es dir bei, das kannst du! Schliesslich hast du mir schon oft zugesehen.» Dann geht er weg und kommt mit seinem grossen Schminkkoffer zurück, stellt diesen auf den Tisch und öffnet ihn. Sofort rieche ich den typischen Geruch, den diese Holzkiste verbreitet. Er nimmt einen Schminkstift in seine Hand und führt mich in die Schminkkunst ein. Er zeigt mir, wie man zuerst das Gesicht grundiert, wie man durch wenige Striche die Augen vergrössert oder kleiner macht, wie die Lippen geschminkt werden und natürlich, wie alles mit Puder fixiert wird. Am Schluss verrät er mir einen Trick, was man machen muss, damit am Schluss alles gut abgeschminkt werden kann. «Bevor du mit dem Schminken beginnst, fettest du die Haut gut mit dieser Creme ein.» Nun bin ich bereit, nicht nur als Schauspieler auf der Bühne zu stehen, sondern auch meine Gspändli zu schminken.

Endlich ist es soweit! Premiere. Mit der hölzernen Schminkkiste in der Hand mache ich mich auf den Weg zur Fridau. Frau Burkhard hat alles für mich bereit gemacht: Einen Stuhl vor dem grossen Spiegel und den Tisch auf der Seite, auf welchem ich die Schminkkiste platzieren kann.

Elisabeth, die Tochter des reformierten Pfarrers, ist die erste, welche auf dem Stuhl Platz nimmt. Sie ist die Jüngste unserer Gruppe und sie stellt den Querflöten spielenden Melchior dar, einen der drei Könige. Weil dieser eine dunkle Haut hatte, nehme ich den schwarzen Stift aus der Kiste. Fast hätte ich es vergessen, die Creme, damit das Abschminken einfacher wird. Elisabeth will sich bereits erheben. «Deine Hände sind noch weiss, das geht gar nicht!», ermahne ich sie. Also streiche ich fettige Creme auf ihre Hände und dann male ich sie schwarz an.

So kommt eine Bühnenperson nach der anderen an die Reihe. Frau Burkhard lobt mich: «Du machst das sehr gut, Christoph! Nun musst du dich aber beeilen! » Ich schaue auf die Uhr. Tatsächlich, es ist schon sehr spät. So bleibt mir nichts anderes übrig, als das Grundieren von nun an wegzulassen.

Geschafft! Nun kommt der zweite Teil meiner Aufgabe. Ich ziehe das schöne Gewand des Herodes an. Noch Minuten bis zur Aufführung. Mein Herz klopft wie verrückt. Ich schaue in den Spiegel, presse die Lippen zusammen, ziehe die Augenbrauen nach unten und schneide eine furchterregende Fratze. So stelle ich mir König Herodes vor!

Der Vorhang geht auf, das Krippenspiel beginnt. Nach fünf Minuten kommt mein grosser Auftritt. Endlich! Die Bühnenlichter gehen aus. Frau Burkhard stellt den Thron, meinen Thron, auf die Bühne. Obwohl mich noch niemand sieht, gehe ich bereits in die Rolle des Herodes und setze mich mit erhobenem Haupt und der Nase nach oben auf den Thron.

Ich repetiere meinen ersten Satz in meinen Gedanken, damit ich bereit bin, wenn das Spiel beginnt. Die Scheinwerfer leuchten. Tief Luft holend stehe ich auf, blicke böse in die Reihe der Zuschauenden und schreie mit überzeugter Stimme: «Ich bin Herodes, der König der Juden!» Da sehe ich die Leute in der vordersten Reihe. Sie schauen mich erschrocken an. Eine alte Frau im Rollstuhl, die ich wohl geweckt habe, schüttelt entsetzt den Kopf: «Geht es dir noch! Du kannst uns doch nicht dermassen erschrecken. Da kriegt man ja einen Herzinfarkt!»

Mit leiser werdender Stimme spreche ich weiter: «Ich bin der grösste Herrscher, niemand kann an meiner Macht kratzen. » Ich höre mir selber zu, wie ich meinen auswendig gelernten Text spreche. Ich bin froh, dass die Lichter ausgehen und ich endlich von der Bühne gehen kann.

Enttäuscht und niedergeschlagen setze ich mich auf einen Stuhl hinter der Garderobe. Da höre ich Querflötenmusik. Was ist mit Elisabeth passiert? Das tönt schrecklich. Sie bricht ihr Spiel ab und rennt weinend von der Bühne. Frau Burkhard nimmt sie in die Arme: «Elisabeth, was ist passiert. Du hast in den Proben doch immer ohne Fehler gespielt? » «Christoph hat mir die Hände eingeschmiert und deshalb rutschte ich ständig ab und konnte die Klappen nicht richtig einsetzen!», antwortet sie mit weinerlicher Stimme.

Frau Burkhard schaut mich schweigend an. Aber ihr Blick sagt mehr als tausend Worte. Welche Blamage!

Ein Jahr nach dem Krippenspiel fragte mich Frau Burkhard, ob ich bei einem richtigen Theaterstück, das vor Erwachsenen im Halbmondsaal aufgeführt wird, mitmachen wolle. Beim Stück «Muratori » würde ich eine der beiden Hauptrollen spielen. Natürlich sagte ich sofort und begeistert zu. Anscheinend hatte ich den gemeinen Herodes gar nicht so schlecht gespielt.

Ich schliesse das Weihnachtsfenster mit einem Lächeln im Gesicht. Ja, die Zeit lässt aus den schmerzlichsten Erfahrungen amüsante Geschichten wachsen.

Christoph Schwager wohnt in Härkingen und ist in Egerkingen aufgewachsen. Er ist Leiter des Schwager Theaters, Autor, Regisseur, Schauspieler, Mime und Theologe. Sein letztes Buch: «Um Himmelgottswillen Engel Klirrius», amüsante Weihnachtsgeschichten, Knapp Verlag, Olten. www.schwager.ch

Text: Christoph Schwager & Bild: ZVG