Dem Hirtenhund fehlte ein Ohr, der Esel war blind, betagt und schwach, die eine Haxe des Ochsen verletzt, die andere gebrochen. In einem kleinen Stall von Bethlehem waren sie alle eingepfercht. Draussen war es kalt und die Finsternis frass sich immer mehr ins Land.
Alsbald gesellte sich auch noch ein scheuer junger Hirte zu ihnen, weil er fror. Der Bub rieb sich die Hände, hauchte sie an, er kämpfte mit den Tränen. Wieder einmal hatte man ihn ausgelacht. Nur er fühlte sich in seiner Ruhe gestört, als plötzlich ein Mann und eine hochschwangere Frau auftauchten. Sofort verbarg er sich hinter einem Haufen Stroh. So wurde er Zeuge eines Ereignisses, das er bisher nur aus der Tierwelt der Schafe kannte: Er erlebte die Geburt eines Kindes! Mit staunenden Augen versuchte er ein paar Blicke zu erhaschen. Er konnte, so gut es ging, die Entbindung mitverfolgen. Er sah Blut an den Beinen der Frau und hörte das Baby schreien. Dann beobachtete er, wie der Mann sein eigenes Gewand auszog, um damit die Frau zu trocknen. Schon bald legte die Frau das Neugeborene in die Futterkrippe. Der ältere Mann ging auf den Stroh-Berg zu und entdeckte dabei den Jungen.
Der Mann war kurz überrascht, lächelte dann aber gütig. Der Junge aber wich sofort ängstlich zurück, merkte aber nach wenigen Augenblicken, dass der Mann ihm offensichtlich wohlgesinnt war. Die Angst des Knaben legte sich. Sein Herz pochte weniger stark. Dann tat er es dem Mann gleich: Er griff nach einem Bündel Stroh und folgte dem Mann zur Krippe. Langsam näherte er sich dem Neugeborenen und der Mutter. Die Frau hob kurz das Kindlein auf und der Mann und der Junge breiteten wie nach einer geheimen Absprache das zusätzliche Stroh aus. Die Frau legte das Kindlein nun behutsam wieder ins Stroh. Jetzt wagte sich der verängstigte Junge, auch der Mutter des Neugeborenen in ihre leuchtenden Augen zu schauen. Dann blickte er ins Gesicht des kleinen Kindes und war im Nu fasziniert von seinem himmlischen Glanz, den es ausstrahlte. Es war, als würde ein seliges Licht einer übermenschlichen Freude von ihm ausgehen. Ein seltsames Gefühl des Vertrautseins stieg in ihm auf. Die Frau blickte nun ihrerseits den Hirtenbub liebevoll und verständnisvoll an. Doch dann wurde die Idylle mit einem Schlag zerstört. Eine grosse und finstere Gestalt mit einem langen Hirtenstab betrat unvermittelt den Raum. Sein zorniger und grimmiger Blick durchstreifte den Stall und blieb am Jungen hängen. Seine Stimme war dunkel und laut. Voller Zorn brüllte er den Knaben an: «Habe ich dich erwischt!»
Der Junge zuckte zusammen.
«Ich werde dich lehren, einfach die Herde zu verlassen!»
Wütend und zielgerichtet schritt er zornig auf den Jungen zu, doch der ältere Mann versperrte ihm den Weg. Aus den Augen dieses älteren Mannes leuchteten wieder Güte und Frieden. Der wütende Eindringling wurde wie von einer unsichtbaren Kraft angehalten. Es war, als stünde ihm ein übermächtiges Wesen gegenüber, ein unsichtbarer Engel, obwohl sich der ältere Mann äusserlich und bei genauer Betrachtung gesehen als eher feingliedrige Natur entpuppte. Der erboste Störenfried konnte sich das nicht erklären. Nun entdeckte auch er das neugeborene Kind im Futtertrog. Irgendwie schien ihn das Bild des schwachen und ausgelieferten Menschenwesens zu beruhigen. Sein Atem wurde langsamer. Er besann sich: «Der Besitzer der Herde war vor wenigen Minuten bei mir, hat mir befohlen, dass ich den verwaisten Jungen finden und herholen soll. Dieser Junge ist halt ein Aussenseiter in unserem Dorf. Man lacht über ihn, über seinen Sprachfehler, über seine einfachen Kleider, die Löcher und Flecken aufweisen.»
«Vielleicht hat sich der faule Bengel diesmal im zerfallenden Stall dort versteckt. Hol’ ihn und erteile ihm eine ordentliche Lektion!», befahl der Eigentümer der Herde dem Hirten, der sich nie traute, dem Besitzer der Schafe die Meinung zu sagen. Denn im Grunde genommen liebte dieser Hirte Kinder.
So waren sie alle zusammen: Der traurige Knabe, die verletzten Tiere, der feige Hirte, das zarte Neugeborene, die Flüchtlinge. Sie alle schienen zusammenzupassen in der alten Behausung, wo sie gerade noch geduldet wurden. In einem einfachen und mürben Stall, von dem man nicht wusste, ob er nicht in der nächsten Stunde über ihnen zusammenbrechen würde. Sie bildeten eine geschenkte Gemeinschaft. Sie waren wie eine natürliche Familie. Es schien, als wären die zusammen, die zusammengehören. Und es war, als wären sie zusammengeführt worden. Hier durften sie Menschen sein, hier durften sie Tiere sein.
Irgendwie fühlten sie sich in ihrer Unvollkommenheit und mit ihren Grenzen angenommen und bejaht. Denn das schutzlose Kind offenbarte ihnen ihre Würde. Sein Licht und seine Demut erlösten ihre Verletzungen. Wie durch ein Wunder lösten sich diese auf. Und die Liebe und Güte, die von seinen Eltern ausgingen, ergriffen ihr Herz. Eine merkwürdige und unbewusste Ahnung verband sie. In allen schien eine kleine Hoffnung auf. Eine kleine und doch unzerstörbare Hoffnung, dass sie an einem Ort waren, wo sie sein durften und geliebt wurden, wo sie Geborgenheit erfuhren. Sie brauchten keinen anderen Ort. Besonders der Junge fühlte sich endlich durch und durch gewollt und akzeptiert, als hätte er eine liebende Mutter und einen liebenden Vater, der für ihn sorgt und ihn beschützt. Denn der Blick der barmherzigen Mutter durchdrang ihn segnend, schützend und erfüllte ihn mit einer inneren Wärme, die er so lange nicht mehr gespürt hatte. Er fühlte sich wie ein kleines und wehrloses Schaf, das von einem guten Hirten auf die Schulter genommen, bewahrt und getragen wird. Er nahm sich vor, so gerne und mutig seine Schafe zu behüten, zu begleiten und zu führen. Ohne Worte dankte er Gott.
Pfarrer Urs-Beat Fringeli, Autor und Erwachsenenbildner. Seit vielen Jahren als Leiter der Pfarrei und des Wallfahrtortes Wolfwil tätig. Zahlreiche Bücher und Sendungen zur Lebenshilfe.