Mit spitzer Feder

Meinrad Kofmel

Ich kannte eine Fabrikantenwitwe, die beschloss, ihren Lebensabend im Tessin zu verbringen. Darauf bereitete sie sich intensiv mit Italienischkursen vor, denn sie wollte am Leben dort teilhaben, und fand, es sei der Höflichkeit geschuldet, sich auf seine Gastgeber einzustellen.

Diese Überzeugung hätten die beiden Pärchen, die sich in unserer Lieblings-Osteria hoch über Brissago an den Nebentisch setzten, niemals geteilt. Für sie war Züridütsch ihre Form von Esperanto. «Die verstehen uns schon!», proletete das Alphamännchen, bevor es so lautstark nach dem «Fröläin!» rief, dass uns das Ausbleiben eines Echos von ennet dem See verblüffte. Er solle keinen Streit vom Zaun brechen, flüsterte seine Gattin. Das liess der Angezischte nicht auf sich sitzen. «Streit gehört zum Leben. Ich habe eine hervorragende Streitkultur!», brüstete er sich. «Was man von dir nicht behaupten kann!» Sie wandte ein, er schreie sie immer an, worauf ihm der Kragen platzte: «Ich muss dich nur anschreien, wenn du mir nicht zuhörst!» Mit einem kleinlauten: «Ich bin halt eine Waage, wie sie im Buche steht», versuchte das Betamännchen erfolglos den Disput zu bereichern.

Die gesamte Zeit erhielten wir zu famoser Tessiner Küche gratis Realsatire vom Feinsten serviert. Als es ans Zahlen ging, bot sich die Bilderbuch-Waage an, die Rechnung zu übernehmen. Alphas Frau griff ins Handtäschchen und fragte die Fleisch gewordene Streitkultur, ob er sein Portemonnaie brauche. Kopfschüttelnd deutete er auf Beta und meinte: «Lass ihn doch! Ich will mich nicht streiten. Manchmal muss der Klügere einfach nachgeben.»

Übrigens: Die Osteria heisst «Borei» und ist aufs Wärmste zu empfehlen.