Der Gutschein

Die Anzeiger-Weihnachtsgeschichte aus der Feder von Meinrad Kofmel

Die Uhr tickt. Der WeihnachtsCountdown läuft. Peter kommt es vor, als beschleunige das Verrinnen der Zeit vor den Festtagen rasanter als das neue Elektroauto, mit dem sein Nachbar sich seit einigen Wochen brüstet. Doch weshalb sollte sich die Zeit in einer Welt, in der man nicht mehr direkt über den Fernsprechapparat miteinander kommuniziert, sondern sich Sprachnachrichten schickt, die zu einem beliebigen Moment in doppelter Geschwindigkeit abgehört werden können, diesem Tempo nicht anpassen?

Nur noch wenige Tage bis zur Bescherung. Verzweifelt pflügt sich Peter auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken einen Weg durch die Menschenmassen auf den Trottoirs der Stadt. Der Kugel eines Flipperautomaten gleich prallt er von einem Geschäft zum nächsten. Er weiss, sein Budget wird reziprok proportional zur schwindenden Zeit anwachsen, bis das «Nichts», das man sich zu Weihnachten schenken will, weil «wir ja alles haben, was wir brauchen», von einer freundlichen Verkäuferin in einem Luxusladen eingepackt und ihm mit den Worten: «Viel Freude beim Schenken» übergeben wird. Same procedure as every year.

Einmal mehr muss er sich eingestehen, die subtilen Gesten und stummen Signale seiner Gattin in den letzten Wochen nicht registriert, missdeutet oder sofort wieder vergessen zu haben. Vor welchen Schaufenstern hat sie ihren Gang verzögert, wo das eine oder andere Teil der Auslegeware mit übertrieben verzücktem Blick betrachtet oder sogar mit lobenden Worten bedacht? Eine Liste, denkt er, nächstes Jahr wäre er mit einer sorgfältig erstellten und stets aktualisierten Liste vor seiner blamablen Einfallslosigkeit gefeit. Eine grandiose Idee, die ihm stets zur Vorweihnachtszeit in den Sinn kommt, um keine Stunde später bereits wieder im geistigen Abfalleimer zu verschwinden. Den Gedanken an hochwertige Dessous verwirft er in Windeseile, weil aufreizende Unterwäsche objektiv betrachtet in erster Linie nicht ihr, sondern ihm zur Freude gereicht, und so offensichtlich eigennütziges Schenken von Charakterschwäche zeugt. Dann der vermeintliche Geistesblitz: Eine Tasche wäre schön, die ist in den vergangenen Jahren immer gut angekommen, oder Schuhe. Da kann man sich in der Grösse nicht vertun; und selbst wenn, Schuhe umtauschen, weil sie zu eng sind, ist nicht halb so dramatisch wie eine Jeans, eine Bluse, eine Jacke oder gar ein Kleid.

In der Kälte der Dämmerung foltert ein Blasmusik-Detachement der Heilsarmee inbrünstig vertraute Weihnachtsklassiker. Die Klänge fordern Peters schlechtes Gewissen darüber, in privilegierten Verhältnissen zu leben, zum Tanz auf. Erfolglos versucht er sich mit dem Spenden eines Fünflibers freizukaufen. Erst eine zusätzliche Zwanzigernote zeitigt den gewünschten Erfolg. Als er sie theatralisch dem Sammeltopf überantwortet, wirft ihm einer der Musikanten einen wohlwollenden Blick zu und erteilt ihm damit die Absolution für seinen Wohlstand.

Just, als er sich durch einen Pulk von plaudernden Menschen, die den Eingang verbarrikadieren, in ein überheiztes Warenhaus zwängen will, holt ihn der penetrante Klingelton seines Handys – er nimmt sich vor, zwischen Weihnachten und Neujahr eine andere Melodie auszuwählen – abrupt aus dem Vorweihnachtsrausch. Das Heim. Ob Mutter eine Dummheit gemacht hat? In letzter Zeit hat sie geistig abgebaut. Neulich scherzte sie zwar noch, ihre Gedächtnislücken seien besser als jeder Fitnesstrainer, weil sie sie ständig dazu zwängen, zurückzugehen, um etwas zu holen, das sie vergessen habe. Mehr Bewegung habe sie ihren ganzen Lebtag lang kaum gehabt. Doch ihr Lachen über den gelungenen Spruch erstarb ob der Angst, mehr und mehr eine Reise in eine unbekannte, nebeltrübe Welt anzutreten, aus der es kein Rückfahrticket gibt.

« Ja, hallo. Geht’s um Mutter? Hat sie etwas verbosget?», fragt Peter halb scherzhaft mit besorgtem Unterton. «Guten Abend, Herr Weiss», klingt es eine Spur zu förmlich aus dem Lautsprecher. Dann eine Pause, ein tiefes Einatmen. «Es tut mir leid, ich muss Ihnen mitteilen, dass uns Ihre Mutter ganz unerwartet verlassen hat.» Ein unsichtbares Tau schnürt Peter binnen Sekundenbruchteilen die Kehle zu. Tränen fluten seine Augen. Noch bevor er sich räuspern kann oder in der Lage ist, etwas zu sagen, fährt die Heimleiterin fort: «Sie ist ganz friedlich mit einem Lächeln im Gesicht eingeschlafen, während sie ferngesehen hat. ‹Drei Nüsse für Aschenbrödel›.»

Das mit dem Tod verbundene Organisatorische gibt der Trauer von Peter und Corinna eine gewisse Struktur: Bestatter, Behörden, Bank, Beerdigung. Dann, unmittelbar vor Weihnachten, das Ausräumen der Wohnung, die nichts anderes ist als ein kleines Zimmer in einem grossen Pflegeheim. Mutter hat aber stets darauf bestanden, von einer Wohnung zu sprechen, weil dieses Wort eine gewisse Selbstständigkeit suggeriere und positiver konnotiert sei als Zimmer mit Pflegebett. Die Heimleiterin drückt Peter ihr Mitgefühl aus und eine alte, verbeulte Kartonkiste mit angerosteten, metallverstärkten Kanten in die Hände. «Den Karton hatte sie auf ihrem Schoss, als sie starb», sagt sie, «und diese Karte drückte sie fest an ihre Brust.» Die Schachtel mahnt Peter an seine Kindheit. In ihr hat Mutter den gesamten Weihnachtsbaumschmuck verwahrt. Behutsam hebt er den Deckel ab. Tatsächlich, hier liegen sie dicht an dicht, die alten Christbaumkugeln, jede einzeln liebevoll in Seidenpapier gewickelt, als handle es sich um kostbare Juwelen. Auf dem Deckel stehen kurze Notizen in der akribisch gleichmässigen Handschrift seiner Mutter:

1970: Das erste Weihnachtsfest mit klein Peterchen. Es war wunderschön.

1971: Klein Peterchens Äugelein strahlten unter dem Baum. Es war so feierlich!

1972: Ein Schaukelpferd für klein Peterchen. Die Überraschung ist geglückt.

1973: Papa im Spital. Klein Peterchen und ich mussten allein feiern. Beten und hoffen das Beste.

1974: Erste Weihnachten ohne Papa. Klein Peterchen und ich vermissen ihn so sehr.

Die Einträge enden erst 1989 mit Peters Umzug in eine Zürcher Studentenwohnung. Klein Peterchen – auch mit über fünfzig Jahren und einem Gardemass von einem Meter zweiundneunzig ist er für Mutter bis zuletzt klein Peterchen geblieben.

Jetzt wirft er einen genaueren Blick auf die vergilbte, akkurat gefaltete Karte, die Mutter offenbar so viel bedeutet hat. «Gutschein» steht in exakten, kaligrafischen Lettern auf der Vorderseite geschrieben, wobei das «G» als Initial so kunstvoll verziert ist, dass es glatt einer wertvollen Inkunabel entsprungen sein könnte. Vorsichtig klappt er die Karte auf und liest: «Dieser Gutschein ist meiner über alles geliebten Tochter Katharina zu Weihnachten 1944 zugedacht. Lass uns gemeinsam Einkehr halten in der Bergwirtschaft ‹zum Waldeck› und vor tief verschneitem Wipfel mit Blick auf tief verschneite Gipfel auf der Terrasse ein Fondue verzehren, sobald die Welt in Frieden und wieder etwas Geld in der Kasse ist. In Liebe, Mama.» Die Zeilen muss seine Grossmutter in Zeiten der Not geschrieben haben, kurz nachdem ihr deutscher Ehemann an der Ostfront sein Leben für eine Ideologie gelassen hatte, die ihm zutiefst zuwider war. Und erneut schnürt die unsichtbare Schlinge Peters Hals zu.

Der Baum, der an Heiligabend in Weiss’ Wohnzimmer gülden leuchtet, unterscheidet sich auffallend von seinen Vorgängern. Zwischen farblich exakt aufeinander abgestimmten Kugeln prangen heuer bunte, nostalgische Einzelstücke. An einigen davon kleben weisse Wachsreste als stumme Zeugen von alten Zeiten, in denen es traditionell allein Kerzen vorbehalten war, Christbäume zu illuminieren. Die feierlich geschmückte Tafel ist für drei Personen gedeckt, wenngleich sich nur zwei zum Festmahl einfinden. Mutters Lieblingsplatz am Kopf des Tisches bleibt leer. Für immer. Trotzdem schenkt Peter ihr vom Rotwein ein, den sie so gerne gemocht hat.

Vor dem Dessert steht die Bescherung an. Peter ist sichtlich überrascht, Corinna hätte auf eine weitere Markentasche und Schuhe gewettet … und gewonnen. Am Schluss ist ein kleines Päckchen übrig, das Peter Corinna feierlich wie einen Schatz überreicht. Sie wickelt es aus dem Geschenkpapier und stutzt. Zum Vorschein kommt ein Holzkästchen mit fein gearbeiteten Intarsien auf dem Deckel. Mit detektivischem Blick identifiziert Corinna es als Mutters Schmuckkästchen. Peter nickt. Sie macht es auf und fördert eine vergilbte, gefaltete Karte zutage, auf deren Vorderseite in exakten kaligraphischen Lettern «Gutschein» geschrieben steht, wobei das «G» kunstvoll als Initial verziert ist. Der Karte liegt ein auf Hochglanzpapier gedruckter Gutschein von der eben wiedereröffneten Bergwirtschaft ‹zum Waldeck› bei: «Fondue auf der Terrasse für vier Personen». «Vier?», fragt Corinna erstaunt. «Du, ich, Mutter – und ihre Mama. Wir zwei werden reichlich Hunger mitbringen müssen.» Sie umarmt ihn fest und flüstert ihm ins Ohr, das sei das fantasievollste, emotionalste, schönste Geschenk, das er ihr je gemacht habe. Und um dem Abend ein wenig vom angestauten Rosamunde-Pilcher-Pathos zu nehmen, entgegnet er bemüht nüchtern: «Wir gehen am Dienstag hin. Dann kannst du gleich deine neue Tasche ausführen.»

Meinrad Kofmel verfasst seit vielen Jahren für den Anzeiger Kolumnen für die letzte Seite, mit wirklich spitzer Feder. Mehr Infos zu ihm und seinem Schaffen finden Sie hier: meinradkofmel.ch

Text: Meinrad Kofmel & Bild: ZVG